Teilen:

change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Mitte bitte: Zwei Projekte im Einsatz für Demokratie und Toleranz

Die drei Mitglieder der Metal-Band Soulbound
N E U
Jan Voth

Eine Metal-Band und ein Jugendprojekt im Einsatz für die Demokratie

  • Verena Carl
  • Jan Voth
  • 14. August 2025

Demokratie braucht Menschen, die sich einbringen, auch jenseits von Wahlen. Ein Jugendprojekt aus Brandenburg und das Engagement einer ostwestfälischen Metal-Band zeigen, wie das gelingen kann – auch dort, wo man es nicht vermutet.

Wo liegt die Mitte der Gesellschaft? Hier zum Beispiel: rechts der See, links der Skatepark, mittendrin eine hell getünchte, etwas in die Jahre gekommene Villa. Darin der größte Jugendclub von Grünheide, südöstlich von Berlin. Frühlingsluft zieht durch die Fenster im Erdgeschoss, wo sich eine Planungsrunde trifft. Auf der Tagesordnung: die nächsten Wahlen zum Kinder- und Jugendbeirat.

Deine Stimme kann die Welt verändern

Sprecherin Lisa Mann klappt ihren Laptop auf, dessen Deckel mit Stickern beklebt ist: „Bock auf Brandenburg“, „Your voice can change the world“ – „Deine Stimme kann die Welt verändern“. Gerade einmal 18 Jahre alt ist sie und führt durch die Sitzung, als hätte sie nie etwas anderes getan: Wer bestellt die Merchandise-Artikel für den Wahltag, wie viele vegane Hotdogs brauchen wir? Bei jedem abgehakten Punkt nickt sie zufrieden, ihre Korkenzieherlocken wippen im Takt, und sie sagt: „Traum!“
 


Metal-Band „Soulbound“: Metal als Lebensgefühl

400 Kilometer weiter westlich, an der Ausfallstraße von Bielefeld nach Herford. Die Metal-Band „Soulbound“ hat einen Raum im ersten Stock eines Firmengebäudes zum Studio ausgebaut, zwischen Baumarkt, Eros-Center und Fast-Food-Ketten. Equipment und Kabeltrommeln stehen herum, Keyboard und Computerbildschirme in der Mitte, gegen - über ein Ledersofa. Drei der fünf Bandmitglieder basteln an ihrem neuen Album: Sänger Johnny, Gitarrist Felix und Schlagzeuger Mario. Ihre Nachnamen möchten sie lieber aus der Presse heraushalten. Sie sind zwischen Anfang 30 und Mitte 40, verdienen ihr Geld in bürgerlichen Berufen, als Therapeut, als Techniker, doch sie sehen genau so aus, wie man sich Metal-Musiker vorstellt: mit schwarzen Klamotten, Nietengürteln und Tattoos.

Im Einsatz für Demokratie und Toleranz

Ländliches Idyll in Brandenburg hier, Großstadt in Nordrhein-Westfalen dort – zwei Welten, doch sie haben etwas gemeinsam. Mit ihrer Stimme die Welt verändern, das wollen – wie der Kinder- und Jugendbeirat – auch die Mitglieder von Soulbound. Bei jedem Auftritt machen sie eine Ansage für Toleranz, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung. Seit 16 Jahren gehört das zu ihrer Show. In letzter Zeit gibt das manchmal Ärger. Einzelne im Publikum protestieren lautstark. Oder sie drehen sich bei den Worten mit dem Rücken zur Bühne, manchmal in einer geschlossenen Reihe. Eine irritierende Erfahrung. „Wir verstehen uns nicht als politische Band“, sagt Sänger und Bandgründer Johnny, „Menschenrechte und Minderheitenschutz gehören ja zu den Grundlagen der Demokratie, bilden den Rahmen. Aber wenn die Gesellschaft insgesamt nach rechts rückt, wirkt unsere Mitte-Position plötzlich links.“ Ihre Ansage machen sie immer vor demselben Song, der drastische Titel lässt sich auch als Antwort an die sich dagegenstellenden Konzertbesucher:innen verstehen. Er heißt „Fuck you“
 

„Menschenrechte und Minderheitenschutz gehören ja zu den Grundlagen der Demokratie, bilden den Rahmen.“

Johnny, Sänger der Band „Soulbound“


Zwischen Tesla und AfD: Der Jugendbeirat in Grünheide

Die Harmonie in der Brandenburger 10.000-Seelen-Gemeinde Grünheide, zwischen Kanuclub, Waldsiedlung und schickem Neubau, hat ebenfalls ihre Risse. Zwischen der Bundestagswahl 2021 und 2025 hat die AfD dort ihre Wahlergebnisse verdoppelt, von 15 auf 32 Prozent. Bei der U-18-Wahl, einer Art Probelauf für alle, die auf Bundesebene noch nicht mitentscheiden dürfen, kamen die Blauen sogar auf 35 Prozent im Durchschnitt des Bundeslandes. Auch im Jugendbeirat prallen unterschiedliche Weltanschauungen und Positionen aufeinander: etwa zur benachbarten Gigafactory des Tech-Riesen Tesla: Was zählt mehr, neue Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft oder die mögliche Umweltbelastung durch den Wasserverbrauch des Industriegiganten?
 

Zu sehen sind zwei Frauen in Nahaufnahme, die einander umarmen. Es ist nur das Gesicht einer Frau zu sehen, sie hat die Augen geschlossen.

Mehr Miteinander: Wie steht es um unsere Empathiefähigkeit?


„Warum denkst du so, woher kommt das?“

Rechtsaußen sei aber keines der Mitglieder, sagt Lisa. Es werde oft hart in der Sache verhandelt, aber immer respektvoll. Im Alltag, auf Dorffesten, da ist das auch mal anders. Manchmal, wenn sich jemand antidemokratisch äußert, sucht sie das Gespräch: „Warum denkst du so, woher kommt das?“ Trifft sie auf ein Gegenüber mit Null-Bock-Haltung, wirbt sie oft für das eigene Gremium: „Wenn jemand glaubt, dass die Politik sich nicht für seine Anliegen interessiert, dann sage ich: ‚Doch, ich zeig dir, wie das geht, du musst es nur wollen.‘“
 

Lisa Mann im Gespräch mit der Reporterin
Lisa Mann ist Sprecherin des Kinder- und Jugendbeirats Grünheide. Lust auf gesellschaftliches Engagement hat sie schon seit Kindertagen.
Anne-Kathrin Rochow, Amtsleiterin für Soziales, Bildung und Kultur in Grünheide
Anne-Kathrin Rochow, Amtsleiterin für Soziales, Bildung und Kultur in Grünheide: „Freizeit und Mobilität sind die Top-Themen für junge Leute in Grünheide“
Lisa Mann und ein Mitglied des Kinder- und Jugendbeirats Grünheide
Lisa Mann und einer ihrer Kollegen vom Kinder- und Jugendbeirat Grünheide: Hier steht Selbstwirksamkeit an erster Stelle.
Die Metalband Soulbound
Felix, Johnny und Mario (v.l.n.r.) von Soulbound nutzen ihre Reichweite, um sich zu positionieren: „Musik ist unser Sprachrohr.“


Demokrat:innen werden nicht geboren, sie werden gemacht

Eine Gesellschaft braucht Menschen, die Verantwortung übernehmen. Und Orte, an denen sie diese Verbundenheit erleben. Einen gemeinsamen Anker finden, auch über Differenzen hinweg. Sei es beim Metal-Konzert, sei es bei der „Jugendnacht“ auf dem Grünheider Heimatfest mit Party und DJ, im Sportverein, in politischen Gremien. „Ich hatte schon in der Grundschule Bock, Dinge zu gestalten“, sagt Lisa. Engagement liegt in der Familie, ihr Vater, Dachdecker- und Tischlermeister, sitzt als sogenannter „Sachkundiger Einwohner“ mit im Bauausschuss und berät bei Entscheidungen. Demokrat:innen werden nicht geboren, sie werden gemacht.
 

„Wenn jemand glaubt, dass die Politik sich nicht für seine Anliegen interessiert, dann sage ich: ‚Doch, ich zeig dir, wie das geht, du musst es nur wollen.‘“

Lisa Mann


Das Misstrauen gegenüber Institutionen ist groß

Allerdings: Das Vertrauen in die eigenen Einflussmöglichkeiten ist gedämpft, gerade bei den Jüngeren. Deutschlandweit glaubt nur knapp jede:r fünfte 16- bis 30-Jährige, dass es einen Unterschied macht, wenn sie oder er sich für ein Thema einsetzt. 40 Prozent glauben, keinen Einfluss zu haben, so eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung. Und obwohl eine Mehrheit die Demokratie grundsätzlich für eine gute Sache hält, ist das Misstrauen gegenüber den Institutionen groß. In den ostdeutschen Bundesländern mehr als in den westdeutschen. All das setzt die demokratische Mitte unter Druck.

Radikale Stimmen nehmen zu

Beteiligungsformate können das Vertrauen stärken – aber dazu braucht es Prozesse und Klarheit. Was kann ein solches Gremium wirklich entscheiden, wo hat es nur Vorschlagsrecht? Erst gefragt und dann doch nicht gehört werden, das produziert am Ende Misstrauen und Frust. Und kann als Nährboden wirken für Radikalisierung. Wo ein Vakuum entsteht, besetzen auch radikale Stimmen diese Räume. Offline wie online.
 

Auf einer Demonstration hält eine Hand ein Pappschild mit der Aufschrift „Equality in Diversity“ hoch

Vom Frust zur Hoffnung: Wie Mitbestimmung deine Welt verändert


Das wichtigste Thema? Endlich eine Dönerbude

In Grünheide wollen sie es besser machen. Seit 2019 regelt ein eigener Paragraf in der Brandenburger Landesverfassung die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, die Gemeinden sind zur Umsetzung verpflichtet. Eine, die diesen Prozess von Anfang an begleitet hat, ist Anne-Kathrin Rochow, heute Amtsleiterin für Soziales, Bildung und Kultur in Grünheide. Sie erinnert sich gut an das Auftakttreffen: rund 50 Kinder und Jugendliche, darunter auch Lisa Mann, damals gerade 13. „Top-Thema war: Grünheide braucht eine Dönerbude.“ Die lässt sich allerdings kaum per Amtsentscheid beschließen, das mussten einige der jungen Teilnehmer:innen erst einmal verstehen. Was geht: Zum Beispiel Wunschlisten für einen neu gestalteten Spielplatz malen und schreiben, mit dem Bauamt sprechen, Kataloge wälzen und ausrechnen, was zum Budget passt. Eine Lektion in Selbstwirksamkeit.

„Ohne Hauptamt funktioniert Ehrenamt nicht.“

Heute gibt es in jedem der sechs Ortsteile einen eigenen Jugendbeirat. Kommunale Sozialarbeiter:innen unterstützen die Jugendlichen dabei, sich zu organisieren. Einmal pro Quartal sitzen die jeweiligen Sprecher:innen mit in der Ausschusssitzung für Soziales, Kultur und Sport im Rathaus am zentralen Marktplatz, haben aber auch einen direkten Draht zu ihren Ansprechpartner:innen. „Ich brauche das Gefühl, dass die Verwaltung uns ernst nimmt“, sagt Lisa. „Ohne Hauptamt funktioniert Ehrenamt nicht.“

Ein Schlüssel für den Jugendclub

Was ihr Engagement bringt, das haben die Teenager jeden Tag vor Augen: neben Spielplatz und Skatepark auch neue Treffpunkte in den Ortsteilen. Einen davon in Lisas Ortsteil Kagel, ein Jugendclub in einer ehemaligen Scheune zwischen Kirche und Feuerwehr. Mit Billardtisch, Kicker, Chill-out-Zone im ersten Stock und einem Gärtchen. Ein besonderer Moment für Lisa: „Seitdem ich 18 bin, habe ich meinen eigenen Schlüssel.“ Ganz schön viel Verantwortung für eine junge Frau, die gerade ihr Fachabitur macht und sich nebenbei auch noch im brandenburgischen Dachverband für Kinder- und Jugendbeteiligung engagiert. Die über Verbandsstrukturen und Satzungen ebenso professionell plaudern kann wie über Straßenbeleuchtung, Zuständigkeiten für Fahrradwege und öffentliche Mülleimer.

Berufsziel Bundeskanzlerin? Eher nein: „Ich möchte lieber im sozialen Bereich arbeiten und mich ehrenamtlich kommunalpolitisch engagieren.“ Amtsleiterin Anne-Kathrin Rochow sagt: „Es ist ein großes Glück, dass viele Jugendliche sich vorstellen können, hierzubleiben und sich auch weiter einzubringen. Wir unterstützen diese Zugehörigkeit, indem wir Angebote für alle Generationen schaffen, vom Familienzentrum über den Jugendclub bis zu Projekten gegen Alterseinsamkeit.“
 

„Ich kann niemanden bekehren. Aber anderen helfen, stabil zu bleiben.“

Johnny, Sänger der Band „Soulbound“


Protest auch dort, wo man ihn nicht erwartet

Zurück nach Bielefeld. Soulbound-Sänger Johnny glaubt: Dass der Gegenwind rauer wird, das hat auch mit ihrem gewachsenen Radius zu tun. „Wir haben uns lange in einer komfortablen Bubble bewegt, mit einem Publikum und anderen Musiker:innen, bei denen wir mit unseren Statements auf der Bühne offene Türen eingerannt haben.“ Jetzt, da die Zuhörer:innenschaft wächst, die Band landesweit auf Tour geht, zeigt sich: Das ist nur ein Teil von Deutschland. Und manchmal kommt Protest aus einer Ecke, aus der man ihn gar nicht erwartet. „Ausgerechnet beim Konzert in Hamburg gab es ein paar Störer, das hätten wir dort nicht vermutet“, sagt Johnny. Insgesamt seien Diskussionen nach Konzerten in Ostdeutschland aber häufiger. „Einige werfen uns vor, dass wir uns überhaupt politisch positionieren. Oder finden, wir würden die Opfer von islamistischen Anschlägen verhöhnen, wenn wir uns für Toleranz gegenüber Menschen mit nicht deutscher Herkunft aussprechen.“
 

Aufnahme von Anna-Lena von Hodenberg vor einem Holzzaun. Sie trägt einen strahlendblauen Mantel und schaut in die Kamera, die Hände locker in die Taschen gesteckt.

Warum müssen wir soziale Medien stärker regulieren, Anna-Lena von Hodenberg?


Social Media: Politisches Sprachrohr für Künstler:innen

Auf Social Media macht die Band ähnliche Erfahrungen. „Ich empfinde es als großes Privileg, dass wir als Künstler dieses Sprachrohr haben. Dass wir dort auch die eigenen Sorgen um die Demokratie artikulieren können. Wenn wir dadurch auch einige Fans verlieren, nehmen wir das in Kauf“, erklärt Johnny. Dafür rücken die enger zusammen, die den Eindruck haben: Jetzt geht es wirklich um etwas.

Soulbound tritt auch dort auf, wo es unbequem werden könnte

Dass er mit Worten Menschen zurückholen kann, die nach rechts gedriftet sind, darüber macht sich Johnny keine Illusionen: „Ich kann niemanden bekehren. Aber anderen helfen, stabil zu bleiben.“ Für andere und für sich selbst. „Mir hat mal ein schwuler Fan erzählt, dass unsere Musik und unsere Ansagen ihm geholfen haben, sich zu outen“, erzählt Schlagzeuger Mario. Eine schöne Bestätigung. Deshalb tritt die Band bewusst auch dort auf, wo es unbequem werden könnte. Zum Beispiel bei einem Festival in Südtirol mit der Band „Frei.Wild“ als Headliner. Frei.Wild sind umstritten, werden von manchen als Rechtsrock-Band eingestuft. Als Soulbound auf der Bühne für Toleranz und Menschenrechte warben, endete auch das überraschend: kaum Protest, viel Applaus.

Knusprige Pommes: Endlich eine Dönerbude für Grünheide!

Kultur- und Freizeitorte, an denen ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen, dienen eben auch als Realitycheck – mit ungewissem Ausgang. Ein Musikfestival genau wie ein Handballverein, ein Jugendclub – oder eine Dönerbude. Denn die hat Grünheide mittlerweile, ganz ohne den Jugendbeirat. Sie steht auf dem Supermarktparkplatz hinter dem Skatepark, auf Google wird sie mit 4,1 von 5 Sternen bewertet. Manche loben die knusprigen Pommes, anderen ist das Rotkraut zu sauer. Man kann es nicht allen recht machen. So ist das eben in der Mitte der Gesellschaft.

Die Bertelsmann Stiftung setzt sich im Projekt „Junge Menschen und Gesellschaft“ mit dem gesellschaftlichen Engagement junger Menschen auseinander und fördert die Selbstbestimmung der Next Generation. Unser Ziel: Junge Menschen zum Einsatz für Demokratie zu empowern.