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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Intellectual Humility: So platzen die Informationsblasen

Professor Michael Patrick Lynch am Computer David Hills

„Wir reflektieren zu wenig über das, was wir online tun“

  • David Hills
  • 18. Juni 2020

Ibuprofen verschlimmert Covid-19-Verläufe! Diese Falschmeldung hat sich am Anfang der Corona-Pandemie wie ein Lauffeuer über WhatsApp verbreitet. Besonders in Krisenzeiten gehen allerlei Fake News im Netz viral. Sie sind aber nicht die einzige Herausforderung, mit der unsere Online-Gesellschaft zu kämpfen hat. change hat mit dem US-Philosophieprofessor Michael Patrick Lynch über Informationsverschmutzung, Wissenspolarisierung und „Intellectual Humility“ gesprochen.

Um die Informationsblasen zum Platzen zu bringen, die unsere gemeinsame Realität in der Demokratie immer mehr auseinanderdriften lassen, schlägt Michael Patrick Lynch eine neue Grundhaltung vor: „Intellectual Humility“ – sich selbst infrage stellen und von anderen lernen. Zu idealistisch? Vielleicht. „Aber ohne eine Vision kann es keine gesellschaftlichen Veränderungen geben“, sagt der US-amerikanische Buchautor und Philosophieprofessor.

Professor Michael Patrick Lynch

Michael Patrick Lynch

... beschäftigt sich als Professor für Philosophie an der University of Connecticut mit Wahrheit, Demokratie, öffentlichem Diskurs und Technologie-Ethik. Sein jüngstes Buch „Know-it-All Society: Truth and Arrogance in Political Culture“ handelt von Arroganz in politischen Diskussionen. Lynch schreibt Philosophiebeiträge für die „New York Times“. Er trat bei der kalifornischen Innovations-Konferenz TED und dem Festival South by Southwest in Texas auf. Für seine Arbeit wurde er von seiner Universität mit der Medaille für Exzellenz in Forschung ausgezeichnet.

Michael Patrick Lynchs Twitter.


change | Professor Lynch, leben wir in unterschiedlichen Realitäten, in denen Algorithmen bestimmen, wie wir die Welt sehen?

Prof. Michael Patrick Lynch | In der Tat: Zu einem großen Teil leben wir in separaten Wirklichkeiten. Diese existieren nicht vollkommen unabhängig voneinander, sondern in Informationsblasen. Wir holen uns unsere Informationen aus unterschiedlichen Quellen, benutzen verschiedene Methoden und isolieren uns von widersprüchlichen Informationen, die wir wegen unserer politischen Überzeugung nicht als wahr akzeptieren wollen. Dafür haben wir eine Online-Gesellschaft von „Freund*innen“ erschaffen, die uns immer wieder neu bestätigt.

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Sie nennen es auch das „goldene Zeitalter der Informationsverschmutzung“. Was meinen Sie damit?

Informationsverschmutzung ist das Abladen von Informationen in der Medienlandschaft, wo sie toxisch werden, weil sie absichtlich verfälscht sind oder in die Irre führen. Wo sie sozusagen nur als Gerücht in die Welt gesetzt werden. Das beste Beispiel sind Fake News: falsche Nachrichten, die verbreitet werden, um einen politischen Vorteil oder Profit daraus zu ziehen.

Eine Person liest etwas auf dem Handy.

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Wir alle, und dazu gehöre ich auch, nehmen an der Verschmutzung dieses gemeinsamen Raums der Demokratie teil. Wir reflektieren zu wenig über das, was wir online tun. Zum Beispiel: Wir teilen politische Newsstorys. Das ist eine Art von politischer Kommunikation, bei der die meisten Menschen davon überzeugt sind, wichtige Informationen weiterzuleiten. Sie wollen damit ausdrücken: Ja, das stimmt, ich empfehle das oder schließe mich an. Daten zeigen aber, dass die meisten gar nicht gelesen haben, was sie teilen! Jüngsten Studien zufolge haben nur vier von zehn Menschen eine Story überhaupt durchgeklickt. 60 Prozent der Leute lesen also nur die Überschrift.

Für den Ausdruck „Intellectual Humility“ eine deutsche Übersetzung zu finden, ist schwierig. Er könnte „Bescheidenheit“, aber auch „Demut“ heißen. Können Sie das Konzept erklären?

Auch auf Englisch kann „Intellectual Humility“ nur als ein technischer Ausdruck verstanden werden. Er war aber der beste Begriff, den ich finden konnte. „Intellectual Humility“ ist eine Grundhaltung. Es geht zum einen darum, die eigenen Beschränkungen zu erkennen, zum Beispiel dass man auch selbst Vorurteile hat. Zum anderen sollte man den Willen zeigen, die eigene Weltsicht dadurch zu erweitern, dass man sich mit den Erfahrungen auseinandersetzt, die andere Menschen mitbringen. Das meine ich mit „Intellectual Humility“. Bei sich selbst festzustellen: Ich bin nicht perfekt. Und mit anderen zusammenzuarbeiten, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
 


Wie sieht es mit Wissenspolarisierung aus, hat sie auch mit Informationsverschmutzung zu tun?

Wissenspolarisierung ist eine besonders bösartige Form der Polarisierung. Sie passiert, wenn wir uns uneinig sind über die Methoden, mit denen wir Wissen erzeugen, also über unsere Quellen, unsere grundlegenden wissenschaftlichen Praktiken.

Die Leute zweifeln die Quellen des jeweils anderen an, manchmal auch die Methode. Und so erreichen wir ein Patt, in dem jeder sagt: Du kannst deine Sicht der Dinge genauso wenig verteidigen wie ich meine. So ein Problem tritt immer auf, wenn in einer Kultur eine gewisse Unruhe herrscht.
 

„Mit ‚Intellectual Humility‘ können wir eine bessere Gesellschaft erschaffen.“

Das ganze Interview mit Michael Patrick Lynch liest du im change Magazin 1/2020.

Wie haben wir die Chance, wieder aus dieser Pattsituation herauszukommen?

Ein klares Rezept ist, dass Regierungen mehr Stellung beziehen. Bei den Themen „Wie werden Informationen verbreitet?“ und „Wer hat Zugang zu Informationen?“ hat die Europäische Union beispielsweise stärkere politische Entscheidungen getroffen als die USA: Die EU motiviert große digitale Plattformen, die Auswirkungen von Wissenspolarisierung online zu verringern. Ob das effektiv ist, wissen wir noch nicht, aber das ist die richtige Strategie.

Was bedeutet das aber für unsere Demokratien? Was ist die Zukunft?

Demokratien sind in der Tat bedroht. Alle Probleme, über die wir hier reden – die Wissenspolarisierung, die Arroganz, die Informationsverschmutzung –, sind direkte Angriffe auf unsere Werte. Meiner Meinung nach sollten Demokratien deshalb ein Interesse daran haben, Wissenschaft und Lehre zu unterstützen. Wir brauchen auf jeden Fall gut informierte Bürger*innen, sorgfältige, reflektierende und wirkungsvolle Erwägungen. Wir brauchen mehr Bürger*innen, die gemeinsam diskutieren können.

Danke für das Gespräch.

Die Demokratie steht unter Druck, in Deutschland und global. Das Projekt „Monitoring der Demokratie“ der Bertelsmann Stiftung erforscht, wie sich die Demokratie in Deutschland und bei internationalen Organisationen verändern muss, damit sie auch in Zukunft funktioniert. Wie sieht es in Europa aus? Das Projekt „Demokratie und Partizipation in Europa“ bezieht die Stimmen der EU-Bürger*innen in die EU-Politik mit ein.