Barrierefreiheit: Auf welche Herausforderungen stoßen Blinde und Sehbehinderte im Internet?
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- 16. März 2021
Für sehende Menschen sind die Augen das wichtigste Tool, um online zu gehen. Doch wie finden sich Blinde und Sehbehinderte im Internet zurecht? Wie können wir Barrieren abbauen? Und wie gelingt mehr Inklusion online? change hat darüber mit dem blinden Barrierefreiheitsexperten Domingos de Oliveira gesprochen.
Domingos de Oliveira
… ist eigentlich Politikwissenschaftler. Nach einer Weiterbildung zum Online-Redakteur wurde er eher zufällig auf das Thema Barrierefreiheit aufmerksam: Viele seiner Kund:innen baten ihn, ihre Webseiten auf Barrierefreiheit zu überprüfen. Obwohl selbst blind, konnte Domingos de Oliveira mit dem Begriff wenig anfangen – zwar wusste er, dass im Internet vieles nicht so funktioniert, konnte aber nicht genau sagen, warum. Er begann sich einzuarbeiten und wurde autodidaktisch zum Experten. Mittlerweile hat er mehrere Bücher geschrieben, hält regelmäßig Vorträge und führt Schulungen zum barrierefreien Internet durch.
Hier findet ihr seine Website und sein Twitter-Profil.
Von den klassischen fünf Sinnen, die ein Mensch besitzen kann, benutzen sehende Menschen die Augen am meisten. Sie verrichten 80 Prozent der sinnlichen Leistung. Über die Augen navigieren sich Sehende durch die Welt, durch Blicke entscheiden sie, was sie essen oder anziehen wollen. Durch die Digitalisierung sind Augen heute aktiver denn je – durchschnittlich verbringen Sehende in ihrer Freizeit 3,7 Stunden pro Tag online. Bei Studierenden oder Menschen, die einem Bürojob nachgehen, kommt noch mehr Zeit dazu, in der die Augen permanent gefordert sind. Doch wie bewegen sich Menschen durchs Internet, die blind sind oder eine Sehbehinderung haben?
Mit Screenreadern navigieren sich blinde Menschen durchs Internet
Für Blinde und Sehbehinderte gibt es sogenannte Screenreader. Sie übersetzen das, was im Internet geschrieben steht, auf eine Braille-Zeile. Außerdem hilft der Screenreader den Nutzer:innen dabei, sich durchs Internet zu navigieren, Befehle zu geben und zwischen verschiedenen Anwendungen zu wechseln. Aber trotz dieser Technologie gibt es für blinde und sehbehinderte Menschen zahlreiche Barrieren im Internet.
Für eine inklusive Medienwelt
Was können Medienschaffende tun, um die Ausgrenzung von behinderten Menschen zu verringern? Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung stellt hierfür einen Leitfaden zur Verfügung.
Domingos de Oliveira setzt sich dafür ein, Barrieren abzubauen
Domingos de Oliveira hat häufig Schwierigkeiten mit den sozialen Netzwerken. Der blinde Accessibility Consultant berät Menschen, wie sie ihre Webseiten barrierefrei machen. „Besonders im Bereich Social Media fehlen oft Bildbeschreibungen, was dazu führt, dass der Screenreader mir nicht sagen kann, was auf dem betreffenden Bild zu sehen ist“, gibt er zu bedenken. Das Gleiche gelte für normale Webseiten. Auch hier komme es immer wieder vor, dass Bildbeschreibungen fehlen oder Überschriften so hinterlegt werden, dass der Screenreader sie nicht erkennen kann.
Eine gute Bildbeschreibung ist wichtig für Blinde und Sehbehinderte
Eine gute Bildbeschreibung drückt für Domingos de Oliveira im Idealfall das aus, was Redakteur:innen den Sehenden durch die Auswahl des Bildes vermitteln wollen. Für ihn persönlich sei außerdem die Aussagekraft eines Bildes wichtig: „Standardbilder, zum Beispiel ein Bus, der in eine Straße einbiegt, interessieren mich relativ wenig. Emotionsgeladene Bilder dagegen viel mehr, etwa wenn jemand ein wichtiges Fußballtor schießt. Da freut es mich sehr, wenn diese Emotionen über eine Bildbeschreibung mittransportiert werden.“
„Ich würde mir wünschen, dass blinde Menschen von Anfang an mehr mitgedacht werden.“
Domingos de Oliveira, Accessibility Consultant
Blinde und sehbehinderte Menschen in sozialen Netzwerken
Auf die Frage, welche sozialen Medien er selbst nutzt, erzählt Domingos de Oliveira, dass er hauptsächlich auf Twitter aktiv sei, Instagram sei ihm zu visuell. Auch die neue Trend-App Clubhouse habe er sich kürzlich heruntergeladen und ausprobiert. Clubhouse sei jedoch erst seit wenigen Wochen überhaupt barrierefrei für blinde Menschen nutzbar, obwohl die App hauptsächlich über Audioinhalte funktioniert. Was neben der Bildbeschreibung auf den sozialen Netzwerken teils für Barrieren sorgt, sind Emojis. Die werden vom Screenreader zwar erkannt, zu viele auf einmal würden allerdings den Lesefluss stören, meint Domingos.
Problematische Formulierungen: Hashtags und Genderschreibweisen
Auch gewisse Hashtag-Formulierungen bereiten Screenreadern Probleme: Sind verschiedene Wörter zusammen- und kleingeschrieben, liest der Screenreader sie als ein einziges Wort vor. Das bedeutet: Für mehr Inklusion sollte jedes Wort in einem Hashtag mit einem Großbuchstaben beginnen, #AlsoEtwaSo. Übrigens sind auch manche Genderschreibweisen Hürden für blinde und sehbehinderte Menschen. Beispielsweise bei dem Sternchen liest der Screenreader das Wort „Stern“ aus, also „Polizist Stern Innen“. Eine bessere Lösung sei der Doppelpunkt, findet Domingos de Oliveira, hier könne man den Screenreader so einstellen, dass er das Wort mit einer kleinen Pause vorliest. Für Menschen mit Sehbehinderungen, die nicht auf Sprachausgabe zurückgreifen, verschwimmt der Doppelpunkt teilweise mit dem folgenden Buchstaben. Hier zeigt sich, wie komplex das Thema ist. Barrierefreiheit ist auch immer eine Frage der Perspektive.
Wie funktioniert Online-Dating für Blinde und Sehbehinderte?
Dating-Apps wie Tinder, Bumble und Co. sind für blinde Menschen wegen des visuellen Fokus auch nur schwer nutzbar. Allerdings gibt es seit einiger Zeit die App Lovetastic, bei der das Matching über gemeinsame Interessen und Eigenschaften stattfindet und für blinde und sehbehinderte Menschen damit viel besser geeignet ist.
Domingos de Oliveiras Hoffnung für die Zukunft: Mehr Inklusion von Anfang an
Für Domingos de Oliveira ist trotz der Schwierigkeiten und Barrieren, auf die er im Internet immer wieder stößt, durch die Digitalisierung vieles einfacher geworden: „Was mir eine große Hilfe ist, sind die Apps der Verkehrsbetriebe, weil die Fahrpläne in den Bahnen oder an den Haltestellen für Blinde überhaupt nicht lesbar sind. Auch Google Maps verwende ich oft, um mich führen zu lassen. Wenn ich mich beispielsweise in der Stadt verlaufen habe, führt die App mich schnell wieder zu einem bekannten Ort.“ Für die Zukunft erhofft er sich vor allem eins: mehr Inklusion, und zwar von Anfang an: „Ich würde mir wünschen, dass blinde Menschen von Anfang an mitgedacht werden. Selbst große Anbieter wie Google oder Microsoft vergessen immer wieder, dass blinde Menschen wirklich ganz anders als Sehende mit Webseiten umgehen.“
Die Bertelsmann Stiftung setzt sich aktiv für Inklusion in allen Bereichen des Lebens ein, auch für ein inklusives Internet - für alle Menschen, egal ob sehend oder nicht. Der technische Fortschritt spielt dabei eine große Rolle – aber auch, wie der Mensch ihn nutzt. In diesem Spannungsfeld bewegt sie die Arbeit des Projekts „Ethik der Algorithmen“. Die Forscher:innen erkunden beispielsweise, wie das Online-Erlebnis für alle demokratisch und barrierefrei werden kann.