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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit: Technik für bessere Kommunikation

Ein Smartphone mit dem Text "Hello" auf dem Schirm liegt auf einem Holztisch. Tyler Lastovich – unsplash.com/license

Diese Technik baut Schranken in der Kommunikation ab

  • Tyler Lastovich – unsplash.com/license
  • 07. Februar 2020

In den letzten Jahren haben Smartphones, künstliche Intelligenz und Apps die Kommunikationspalette erweitert, mit der sich Menschen untereinander verständigen können. change erklärt, wie es funktioniert.

Disclaimer: Dieser Artikel ist eine komplett überarbeitete Fassung, die dank des Feedbacks auf Twitter von Clara und Julia Probst erstellt wurde. Die Ursprungsversion wurde der komplexen Thematik nicht gerecht. Wir danken den beiden für ihre konstruktive Kritik.

In Deutschland leben etwa 16 Millionen Menschen mit Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit. Etwa 80.000 gehörlose Menschen verwenden die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Außerdem gibt es Menschen, die zwar hören, aber nicht sprechen können – etwa als Folge eines Schlaganfalls oder einer Krankheit oder Behinderung.

Im Alltag ist die Kommunikation mit Hörenden für alle drei Gruppen oft schwierig: für Schwerhörige, weil sie Lautsprache nicht (mehr) gut verstehen, für Gebärdenmuttersprachler*innen, weil immer noch nur wenige Hörende Gebärdensprache beherrschen; für Menschen, die weder sprechen noch gebärden (können), weil bisher oft eine gemeinsame Sprache fehlte. Wie kann modernste Technik dazu beitragen, diese Sprachbarrieren abzubauen?

Unterstützte Kommunikation für mehr Unabhängigkeit

Menschen, die weder Laut- noch Gebärdensprache sprechen, kommunizieren oft mit Atmung, Mimik, Gestik und einzelnen Gebärden. Waren früher oft noch teure „Talker“ notwendig, um ihnen die Kommunikation zu erleichtern, bei denen u.a. über Symbole eine Lautsprachausgabe ermöglicht wird, leisten das heute häufig Apps, die einfach und schnell auf Handys und Tablets einsetzbar sind. Mit Hilfe dieser inzwischen schon weit entwickelten „Unterstützten Kommunikation“ können sich Menschen ohne Laut- und Gebärdensprache zunehmend selbstbestimmter und unabhängiger bewegen und ohne Hilfe Dritter kommunizieren.

Dazu können auch Apps wie „Text-to-Speech“-Apps beitragen, die geschriebenen Text in gesprochener Sprache ausgeben. So können Menschen, die keine Lautsprache sprechen, etwa Telefonate oder Gespräche führen, indem die Nachrichten in gesprochene Sprache übersetzt werden.

Andere Algorithmen lernen, die Sprache von Menschen mit Sprachstörungen besser zu verstehen und verfeinern somit die Spracherkennung von Betriebssystemen. Die Spracherkennung erkennt dadurch auch Stimmen, die die übliche Software noch nicht gut erkennt.
 

„Auch wenn algorithmische Hilfsmittel den Einzelnen unterstützen können, dürfen sie die Gesellschaft nicht von der Pflicht zur Inklusion und Anerkennung von individueller Unterschiedlichkeit entbinden“

Dr. Jörg Dräger & Anita Klingel, in: „Befähigung: Das optimierte Ich“

 

Von einfachen App-Lösungen zu komplexen Algorithmen

Textnachrichten und Messenger-Dienste erleichtern die Kommunikation zwischen Hörenden und Schwerhörigen oder Menschen, die Gebärdensprache sprechen – da taugt jedes Smartphone. Für die schnelle Kommunikation geht auch einfach die „Notizen-App“, in die man seine Frage oder Antwort eingibt.

Die Entwicklung elektronischer Hilfsmittel hat die Kommunikationspalette in den letzten Jahren zwar erweitert. So gibt es beispielsweise im Bereich Hand-Tracking einige Fortschritte: Was früher fast unmöglich schien, nämlich komplexe Handgesten technisch in Echtzeit in Lautsprache zu übersetzen, ist nun einen ganzen Schritt weiter.

Es ist aber immer noch nicht möglich, alle wichtigen Elemente der Gebärdensprache wie unter anderem Mimik, Gestik und Emotionen zu erfassen und in die lautsprachliche Übersetzung mit einzubeziehen. Auch von der technikunterstützten Übersetzung von Lautsprache in Gebärdensprache sind wir noch meilenweit entfernt.

Was ist Gehörlosigkeit?

Die Gehörlosengemeinschaft definiert Gehörlosigkeit nicht medizinisch über fehlendes Hörvermögen, sondern sprachlich und kulturell. Demnach sind gehörlose Menschen solche, die bevorzugt über Gebärdensprache kommunizieren. Es gibt eine eng vernetzte Community mit einer reichen Kultur: Sportvereine, Theater- und Musikgruppen, eine eigene literarische Tradition und Kunst, wo Gehör keine Rolle spielt.

Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist übrigens eine gesetzlich anerkannte Sprache und damit der Lautsprache rechtlich gleichgestellt. Gehörlose haben somit ein Recht auf eine*n Gebärdendolmetscher*in etwa bei Behördenangelegenheiten.  Etwa 200.000 Menschen in Deutschland, Belgien und Luxemburg verwenden DGS dauerhaft oder gelegentlich. Sie sind also eine sprachliche Minderheit, deren Sprache man natürlich auch als Hörende*r erlernen kann.

Zwei Hände als Symbol für Gebärdensprache


Technische Erweiterungen entbinden nicht von der Pflicht zur Inklusion

Technik kann unsere visuellen, auditiven und kognitiven Fähigkeiten erweitern. Manche hörbehinderte Menschen jedoch verzichten zum Beispiel bewusst auf die Nutzung eines Cochlea-Implantats, da sie ihre Taubheit nicht als Mangel empfinden. Die Entscheidung ist individuell zu treffen. In solchen Fragen kann nicht die Mehrheitsgesellschaft bestimmen, „welches vermeintliche Manko künftig durch eine technische Erweiterung ausgemerzt werden soll. Auch wenn algorithmische Hilfsmittel den Einzelnen unterstützen können, dürfen sie die Gesellschaft nicht von der Pflicht zur Inklusion und Anerkennung von individueller Unterschiedlichkeit entbinden“, formulieren es Dr. Jörg Dräger und Anita Klingel in einem lesenswerten Blogbeitrag.

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Die beste Technik ist Respekt: Sprachtipps für Hörende

Technik kann dabei helfen, miteinander zu kommunizieren und kann erste Barrieren abbauen, und manchmal, gerade für Menschen, die weder laut- noch gebärdensprachlich kommunizieren können, oder Menschen, die eine Schwerhörigkeit erworben haben, ein ungeheurer Gewinn sein.

Als Hörende*r kann man außerdem auf ein paar ganz einfache Dinge achten, die einen großen Unterschied in der Kommunikation machen. Wenn man als Hörende*r mit gehörlosen Menschen spricht, sollte man sie dabei direkt anschauen und Blickkontakt halten. Viele Gehörlose zum Beispiel können von den Lippen lesen – noch ein Skill, den nur die wenigsten Hörenden beherrschen. Dabei kommt es aber oft zu Missverständnissen.

Deswegen sollten Hörende langsam, deutlich (aber nicht laut) in kurzen, klaren Sätzen sprechen. Auch Lichteinfall, Dialekt oder die Zigarette im Mund kann das Lippenlesen stören. Und natürlich können auch Hörende Gebärdensprache lernen, zum Beispiel an vielen Volkshochschulen.

Vielfalt ist unsere Stärke! Die Bertelsmann Stiftung setzt sich aktiv für Inklusion in allen Bereichen des Lebens ein. Auch beschäftigt sie der ethische Umgang mit technologiebasierten Erweiterungen individueller Fähigkeiten. Darum geht es unter anderem in dem Projekt „Ethik der Algorithmen“.