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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Ukraine-Special mit Osteuropa-Expertin Miriam Kosmehl

Eine Person hält ein Schild auf dem "Stand With Ukraine" steht
Interview
wachiwit – stock.adobe.com

Frag die Expertin: Was passiert gerade in der Ukraine, Miriam Kosmehl?

  • wachiwit – stock.adobe.com
  • 15. Juli 2022

Wie ist die aktuelle Situation im Russland-Ukraine-Krieg? Was spielt sich zur gleichen Zeit in Russland ab? Und wie wirkt sich der Krieg auf Europa und die Welt aus? Das sind nur einige der Fragen, die change der Forscherin Miriam Kosmehl gestellt hat.

Miriam Kosmehl über die aktuelle Lage in der Ukraine.

Miriam Kosmehl ...

... ist seit 2017 Senior Osteuropa- Expertin bei der Bertelsmann Stiftung. Zuvor
leitete sie das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew, mit
Zuständigkeit für die Ukraine und Belarus. Sie hat auch fast zehn Jahre in
Russland gelebt und Rechtswissenschaften in Freiburg und Utrecht studiert.
Miriam Kosmehl hat zu Gegensätzen in der EU-Nachbarschaft, geopolitischen
Ambitionen in den Regionen um das Schwarze und das Kaspische Meer und
zur Bedeutung von Antikorruption für Rechtsstaatsförderung geforscht.


change | Wie ist der Stand der Dinge im russischen Krieg gegen die Ukraine momentan? Können Sie uns einen kurzen Überblick geben?

Miriam Kosmehl | Dieser von Vladimir Putin als Blitzkrieg geplante Überfall ist zu einem Abnutzungskrieg geworden. Ein Kriegsende oder wenigstens einen Waffenstillstand sehe ich aktuell nicht. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat kürzlich gesagt, er rechne damit, dass es noch Jahre dauern könnte, bis die Waffen schweigen. Die Kampflinien bewegen sich nur sehr langsam: Man hat sich vor allem im Osten der Ukraine eingegraben. Der andere große Hauptschauplatz ist der Süden. Es gibt sehr viele Tote und Verletzte. Ich bin keine Militärexpertin, aber wenn man das in den Vergleich zu anderen Kriegen setzt, ist das enorm. Zum Vergleich: Im gesamten Afghanistankrieg 1979 bis 1989 sind 15.000 sowjetische Soldat:innen gefallen. Nach offiziellen ukrainischen Angaben geht man aktuell von bis zu 200 toten Soldat:innen auf der ukrainischen Seite pro Tag aus. Wenn man das hochrechnet, kommt man auf diese Zahl von 15.000 in weniger als drei Monaten. Am schlimmsten sieht es insgesamt also für den Donbass und für den Süden aus, wo schon große Gebiete unter russischer Besatzung stehen, was für die Menschen dort schwerwiegende Folgen hat. Wir reden hier von Menschenrechtsverletzungen, von nach wie vor akuter Gefahr auch für Odessa, einer Stadt, die wegen ihrer Lage am Schwarzen Meer eine große strategische Bedeutung hat.

Sie selbst haben mehrere Jahre in der Ukraine gelebt. Wie geht es den Menschen dort, wie geht es ihren Freund:innen und Bekannten, die vielleicht noch vor Ort leben oder mittlerweile geflüchtet sind?

Die meisten meiner Freund:innen, Bekannten und Kontakte sind in der Ukraine. Nach einiger Zeit in der Westukraine sind sie größtenteils nach Kiew zurückgekehrt. Das hat auch damit zu tun, dass es der Ukraine gelungen ist, für die Hauptstadt einen Raketenschutzschirm einzurichten, dadurch fühlt man sich vor Ort einigermaßen sicher. Sie halten sich alle mit Aktivitäten aufrecht, was auch eine Überlebensstrategie ist angesichts dieses unfassbaren Krieges und auch eine Form des Widerstands, um ihren Beitrag zu leisten und das zu tun, was sie besonders gut können, die eine Kommunikationsarbeit, die andere Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, ein Dritter Hilfsgüter organisieren. Man muss dazu sagen: Die Raketenabwehr für Kiew ist nicht undurchlässig, und eine funktionierende Luftabwehr gibt es keinesfalls für die ganze Ukraine. So kann Russland immer wieder weit entfernte Ziele im ganzen Land angreifen und damit demonstrieren, dass es keine Garantie für Sicherheit gibt, auch im Westen der Ukraine nicht. Was mit ein Grund dafür ist, dass viele Geflüchtete, gerade mit Kindern, nicht zurückkehren.
 

Mehr dazu im Podcast „Zukunft gestalten“

Haben wir es uns nach mehr als 75 Jahren Frieden in Europa zu bequem gemacht? Wie können wir jetzt der Ukraine helfen? Um diese Fragen geht es im Podcast „Zukunft gestalten“ mit den Gästen Miriam Kosmehl und Gerhart Baum. Jetzt anhören!


Besonders schwer: In den sozialen Medien von Kriegsopfern lesen

Miriam Kosmehl | Bekannte sagen, dass es ihnen immer schwerer fällt, in den sozialen Netzwerken von den durch den Krieg Umgekommenen zu lesen, die man persönlich kennt. Von ganz nahen Kontakten gar nicht zu reden. Also von jungen bis mittelalten Menschen, die mitten im Leben standen, erfolgreich waren und jetzt im Krieg gestorben sind. Auch belastend sind die die Menschenwürde verletzenden Formulierungen, die aus Russland kommen. Trotz aller Absurdität solcher Medienbeiträge macht das Menschen zu schaffen, beispielsweise zu lesen, dass man als Volk vernichtet gehöre, die Zerstörung verdiene.
 

Miriam Kosmehl über die aktuelle Lage in der Ukraine.

„Das Putin-Regime führt zwar Krieg in der Ukraine, aber nicht nur dort. Denn es ist unser freiheitliches und demokratisches Lebensmodell, das es als bedrohlich empfindet, Putin für sich persönlich und sein Herrschaftsmodell.“

– Miriam Kosmehl, Osteuropa-Expertin der Bertelsmann Stiftung


change | Bei einer Umfrage über die Auswirkungen des Russland-Ukraine-Kriegs auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland kam heraus, dass besonders die Menschen Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, die sich hier sicher fühlen. Menschen, die sich hier eher unsicher fühlen, sind eher dagegen. Ist die Angst berechtigt, dass durch indirektes Eingreifen in den Krieg das Risiko für Deutschland und Europa wächst, in den Krieg hineingezogen zu werden?

Miriam Kosmehl | Auf diesen Krieg bezogen ist das Risiko keinesfalls geringer, wenn wir nichts tun – ganz im Gegenteil. Das Putin-Regime führt zwar Krieg in der Ukraine, aber nicht nur dort, denn es ist unser freiheitliches und demokratisches Lebensmodell, das es als bedrohlich empfindet, Putin für sich persönlich und sein Herrschaftsmodell. Wir sollten spätestens jetzt lernen, dass typische Handlungsmuster – also das Aufbauen autoritärer Strukturen in Russland seit Putins Amtsantritt zur Jahrtausendwende, die mit großer Brutalität geführten Kriege in Tschetschenien oder die russische Unterstützung des Kriegsverbrechers Baschar al-Assad in Syrien – auch uns betreffen. Das sieht man beispielsweise an dem, was bereits bei uns passiert ist, etwa die russischen Attentate in europäischen Ländern wie der Tiergarten-Mord, die Giftanschläge in Großbritannien oder Hackerangriffe auf deutsche Institutionen.

Russland setzt Energie als Waffe ein

Miriam Kosmehl | Es sollte klar sein, dass wir mit diesem Angriffskrieg genauso gemeint sind. Ein generalisiertes Misstrauen gegenüber Russland ist überfällig. Deutschland hat die Warnungen vieler osteuropäischer Staaten viel zu lange nicht ernst genommen und hat auf zuverlässige Energiebeziehungen, die nur in seinem eigenen Verhältnis zu Russland seit den 1970er-Jahren bestanden, verwiesen. Jetzt finde ich interessant, dass auch deutsche Politiker:innen klar formulieren: Russland setzt Energie als Waffe ein. Erst jetzt, weil es nun Deutschland unmittelbar betrifft.
 

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In ukrainischen Häfen stecken derzeit Hunderte Schiffe mit Weizenlieferungen fest, die wichtig für die Nahrungsmittelsicherheit in zahlreichen Ländern sind. Welche Möglichkeiten gibt es, weltweit Hungersnöte zu verhindern und trotzdem an den Sanktionen gegen Russland festzuhalten?

Die Sanktionen der EU gegen Russland lassen den freien Verkehr von Nahrungsmitteln zu, das hat der Europäische Rat nochmals unterstrichen. Russland versucht aber, gezielt über das Zurückhalten von Nahrungs- und Düngemitteln Druck aufzubauen, mit dem Ziel, dass neu über die Sanktionen nachgedacht wird. Damit die Nahrungsmittel trotzdem auf die Märkte kommen, gibt es zahlreiche Bemühungen, die teils auch schon umgesetzt sind. Beispielsweise über alternative Routen wie den Landweg, per Eisenbahn oder über Flusshäfen. Allerdings können so keinesfalls ähnliche Mengen wie normalerweise über den Seeweg transportiert werden. Deswegen gibt es gleichzeitig Überlegungen, wie man Transportkorridore im Schwarzen Meer absichern könnte. Das Problem ist jedoch, dass Russland als UN-Mitglied dem zustimmen müsste, was eben nicht leicht passieren wird, wenn Russland Nahrung als „stille Waffe“ versteht, wie es Ex-Präsident Dmitri Medvedev offen sagt.

Die Probleme, die wir jetzt haben, werden auch die Ernten in den nächsten Jahren betreffen

Miriam Kosmehl | Die ärmsten Länder, die am meisten unter dem Ausbleiben gerade von Grundnahrungsmitteln leiden, brauchen kurzfristig Hilfe. Wichtig ist, sich strategisch auf die Zukunft vorzubereiten, weil Russland besonders den Süden der Ukraine angreift, wo es die fruchtbarsten Böden des Landes gibt und die Seehäfen sind. Diese Orte sind jetzt zum größten Teil besetzt oder von Kriegshandlungen betroffen, insofern müssen wir uns darauf vorbereiten, dass die Probleme, die wir jetzt haben, auch kommende Ernten betreffen. Langfristig ist auch strategisches Diversifizieren wichtig, es gilt, Alternativen für die ausbleibenden Lieferungen zu finden. In unserer aktuellen Studie zum Thema Nahrungsmittelsicherung zeigt eine ukrainische Expertin auf, für welche Länder das Ausbleiben der ukrainischen Agrarexporte besonders schmerzlich ist. Die Entwicklung der Landwirtschaft seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat das Land ja zu den weltweit führenden Lebensmittelexporteuren gemacht. In einer Folgestudie schauen wir dann speziell auf Tunesien als betroffenes Land in der direkten EU-Nachbarschaft. In der Studie arbeiten wir Vorschläge aus, wie die Nahrungsmittelsituation dort langfristig verbessert werden kann.
 


Auch in Russland haben sie fast zehn Jahre lang gelebt. Wie ist die Lage derzeit dort, haben sie persönliche Kontakte in das Land?

Ich selbst habe  nur noch einen einzigen engen freundschaftlichen Kontakt in Russland, was auch damit zusammenhängt, dass viele Freund:innen und Bekannte Russland schon in den vergangenen Jahren verlassen haben.

Hat Putin mit seinem Krieg immer noch Rückhalt in der Bevölkerung?

Insgesamt haben wir in Russland dieses Zusammenwirken von Propaganda auf der einen Seite und Repressionen auf der anderen. Mittlerweile wird man schon abgeführt, wenn man sich einfach nur öffentlich hinstellt und so tut, als hielte man ein Blatt mit einer Botschaft, ohne überhaupt eines zu zeigen. Deshalb ist ein Protest gegen den Krieg natürlich nicht einfach. Nach Umfragen russischer Meinungsforschungsinstitute ist immer noch eine deutliche Mehrheit der Russ:innen für diese „Spezialoperation“, wie der Krieg in Russland bezeichnet wird. Gleichzeitig sind die Menschen mit ihrer Meinung vorsichtig, weil man schon bis zu 15 Jahre Gefängnis riskiert, wenn man den Krieg auch Krieg nennt – deshalb ist auch fraglich, wie aussagekräftig solche Umfragen sind.

Wirkt also die Propaganda nach wie vor, dass die Ukraine von Nazis befreit werden müsse?

Ja, diese Propaganda wirkt nach wie vor. Hinzu kommt, dass man vorgibt, gegen die Dekadenz des Westens und gegen Amerika zu kämpfen. An die EU und die Amerikaner:innen habe die Ukraine ihre Souveränität verkauft. Damit soll verschleiert werden, was so schwer vorstellbar ist: dass dieser Vernichtungskrieg das eigentliche Brudervolk trifft. Die Sanktionen gegen Russland werden dabei als Plan des Westens dargestellt,  Russland zerteilen und schwächen zu wollen.

Wächst nicht auch in Russland langsam der Unmut, weil sich diese Sanktionen in der breiten Gesellschaft bemerkbar machen?

Es macht einen Unterschied, über wen wir sprechen: Ist es die russische Mittelklasse in den Städten, von denen einige den Zugang zu alternativer Berichterstattung suchen? Oder über den Teil der Bevölkerung, viele Menschen davon auf dem Land, die nur Staatsfernsehen konsumieren, massive Propaganda. Insgesamt muss man bedenken, dass die politische Kultur in Russland anders ist als bei uns und auch in der Ukraine. Die Trennung zwischen privat und öffentlich ist in Russland stärker. Die allermeisten Menschen fühlen sich nicht verantwortlich für ihre Führung. Sie sehen sich gar nicht als Teil des Staats. Viele, die können, entziehen sich ihm. In Mittelstandsfamilien etwa wird meist bewerkstelligt, dass die Söhne nicht zum Wehrdienst müssen – weil man weiß, wie schlimm es nach wie vor in der eigenen Armee zugeht. Das ist auch wichtig, um zu verstehen, wer die „normalen“ Soldaten sind, die aktuell in der Ukraine kämpfen, aus was für armen Gegenden sie kommen, wie schlecht sie informiert sind, wie leicht zu manipulieren.
 

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Eine Frage, die viele umtreibt: Hätte es schon früher harte Sanktionen gegen Russland gegeben – beispielsweise nach der Annexion der Krim 2014 –, wäre es dann überhaupt zu diesem Krieg gekommen? Oder wäre die Lage dann früher eskaliert?

Ich glaube, dass Vladimir Putin die Lage in mehrfacher Hinsicht falsch eingeschätzt hat. Was die Ukraine betrifft sowieso, weil er dachte, dass es eine schnelle Eroberung werden und ihn die Menschen im überwiegend russischsprachigen Osten und Süden freudig empfangen würden. Aber eben auch, was die internationalen Reaktionen betrifft. Ich glaube, er hat in den letzten Jahren gezielt getestet und ausprobiert, was passiert, wenn er dieses oder jenes tut. In einer Studie haben wir das eine „Politik der kleinen Schritte“ genannt. Insofern denke ich, dass er genau zur Kenntnis genommen hat, ob eine Reaktion ausbleibt oder schwach ist, und daraus den Schluss gezogen hat, dass er weiter gehen kann. Diese Erkenntnis sollten wir im Kopf behalten, wenn es um die Zukunft geht. Unser wichtigstes Ziel – Frieden in Europa auch gegen Russland, wenn das Putin-Regime den Krieg will – lässt sich nur aus einer starken eigenen Position, Stichwort Abschreckung, und gefestigten Allianzen erreichen.

Wie sicher wäre ein Waffenstillstand?

Miriam Kosmehl | Momentan bildet sich mit Blick auf diesen Krieg ein sogenanntes „Friedenslager“ und ein „Gerechtigkeitslager“. Die einen sagen, man muss unbedingt einen Friedensschluss oder zumindest einen Waffenstillstand erreichen. Die anderen sagen, die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen, Russland muss maßgeblich geschwächt werden. Unabhängig davon, auf welcher Seite man steht, bleiben die Sicherheitsgarantien unklar. Ich wiederhole zuvor Gesagtes: Ein generalisiertes Misstrauen gegenüber Russland ist angebracht. Wie sicher können wir uns sein, dass es bei einem Waffenstillstand bleiben würde? Was ist mit den Ukrainer:innen, die bereits unter russischer Besatzung leben müssen? Daran hängt auch der Wiederaufbau der Ukraine, der wahnsinnig viel Geld kosten wird. Dafür braucht man auch private Investor:innen – aber wer wird in der Ukraine investieren, wenn der Frieden unsicher ist?

Vielen Dank für das Gespräch!

Der russische Angriff auf die Ukraine hat alles verändert. Mit aktuellen Analysen und Studien hilft die Bertelsmann Stiftung verstehen, was der Krieg für Europa und die Welt bedeutet.