Was können wir gegen Desinformation tun, Malavika Jayaram?
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Lauren DeCicca
- 21. März 2024
Desinformation und Fake News haben die Macht, ganze politische Systeme ins Wanken zu bringen, indem sie in den Köpfen der Menschen eine falsche Realität erzeugen. Malavika Jayaram, Expertin für Technologieethik, klärt im Interview mit change über Desinformation auf und darüber, warum das Recht auf Privatsphäre kein Privileg ist, sondern weltweit für alle gelten sollte.
Wahlen sind das Fundament funktionierender Demokratien. Was aber, wenn diese Wahlen durch Falschinformationen, die sich gerade in der heutigen Zeit rasend schnell über soziale Netzwerke verbreiten, verzerrt werden? Malavika Jayaram hat change erzählt, warum Desinformationskampagnen so gefährlich sind und was es braucht, damit sich Bürger:innen dagegen wehren können.
Malavika Jayaram…
… leitet den Think-Tank „Digital Asia Hub“, eine unabhängige, gemeinnützige Denkfabrik für Internet und Gesellschaftsforschung mit Sitz in Hongkong. Zuvor arbeitete sie als Anwältin für IT-Recht bei Allen & Overy in London und war Vice President und Technology Counsel bei Citigroup EMEA. Ihr Engagement für Datenschutz und Ungleichheit in Indien bewogen sie dazu, sich der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft zuzuwenden. Neben ihrem Hauptberuf ist sie Faculty Associate am Berkman Klein Center for Internet & Society an der Harvard University.
change | Wie fordert Desinformation die Demokratie im „Superwahljahr 2024“ heraus?
Malavika Jayaram | Eine informierte Wahl treffen zu können, ist die Grundlage für die Bürger:innenbeteiligung in einer funktionierenden Demokratie. Desinformation stört und untergräbt die Möglichkeit, Urteile und Entscheidungen über Themen und Kandidat:innen auf der Grundlage von Fakten zu treffen. Wenn Menschen nicht nur ihre eigene Meinung, sondern auch ihre eigenen Fakten haben, wird es aufgrund der daraus resultierenden Polarisierung immer schwieriger, einen Konsens zu erzielen.
Dies führt zu einer zerrissenen Gesellschaft, in der wissenschaftliche Methoden kein Gehör finden. Zusätzlich erschwert die Polarisierung das Zusammenleben in Gesellschaften, die eine sprachliche, religiöse, ethnische, kulturelle oder sozioökonomische Vielfalt aufweisen. Desinformation kann auch dazu führen, dass Macht in den Händen der etablierten Parteien verankert wird. Dadurch werden alternative Möglichkeiten verdrängt, die für eine Bevölkerung oder ein Land möglicherweise besser sein könnten. Es gibt aufrichtige Bemühungen, Desinformation zu bekämpfen. Es gibt aber auch Maßnahmen, die als Waffe eingesetzt werden, um legitime Kritik an den Machthabenden zu zensieren. Gesetzliche Regulierungen, Desinformation einzudämmen, können auch ein Instrument sein, das die Redefreiheit einschränkt. Dadurch vergrößert sich das Demokratiedefizit.
Das kennen viele Europäer:innen nicht. Können Sie ein Beispiel aus Asien geben?
In Asien reagieren Regierungen sehr viel schneller auf kritische Inhalte aus dem Internet als im Westen. In den USA ist es kein Problem, etwas gegen den Präsidenten zu schreiben, hier schon. Es werden zum Teil uralte Gesetze der Volksverhetzung angewandt, um Meinungsfreiheit zu unterbinden. Das ist hier in Thailand gut zu sehen, wo es ein Gesetz gegen Majestätsbeleidigung gibt, das oft zum Einsatz kommt, um Diskussionen in sozialen Medien auszuschalten. Regierungen sind hier zum Teil sehr nationalistisch und glauben, dass öffentliche Kritik Länder spaltet, statt die Demokratie zu fördern. Oft sind es die westlichen Firmen, die Löschanfragen der Regierungen nicht sofort nachgeben. Lokale Firmen hingegen schon, weil sie sonst nicht mehr arbeiten können.
Können Sie einige Beispiele für die häufigsten Formen politischer Desinformation und deren Auswirkungen auf die öffentliche Meinung nennen?
Eine der gängigsten Formen der politischen Desinformation ist Hatespeech. Sie kann in manipulierten Inhalten oder Memes auftreten, die Minderheiten oder Subkulturen angreifen. Doch politische Desinformation wird nicht nur auf Onlineplattformen verbreitet, sondern auch in traditionellen Medien, darunter Fernsehsender, Radiosender und andere „alte Medien“. Auch Regierungen können die Quelle von Desinformation sein – in Asien vielleicht mehr als im Westen.
In Ländern, die kein gesundes, florierendes Medienökosystem haben und monopolistische oder wettbewerbsfeindliche Marktbedingungen zulassen, leidet die Informationsversorgung der Bevölkerung. Ich nenne das auch „Informationsunterernährung“. Es können keine informierten Entscheidungen getroffen werden. Auch gesundheitsbezogene Desinformation hat schwerwiegende Folgen für die öffentliche Meinung. Dies war gut in der Pandemie zu beobachten, als pseudowissenschaftliche und medizinisch falsche Informationen verbreitet wurden.
Oftmals können Hassreden, die in digitalen Medien verbreitet werden, sogenannte 'Offline'-Konsequenzen haben, indem es zu Gewalt gegenüber Zielpersonen bestimmter Narrative kommt.
- Malavika Jayaram
Wenn Menschen das Wort „Desinformation“ hören, denken sie hauptsächlich an gefälschte Nachrichten im Internet. Doch Sie sagten gerade, dass es auch Offline-Formen der Desinformation gibt. Welche sind das neben Fernsehen und Radio?
Zunächst einmal sollte ich sagen, dass das Denken in der Dichotomie von online und offline eine veraltete Denkweise über das Medienumfeld ist. Online ist nicht etwas, das vom Offline getrennt ist und ihm gegenübersteht. Offline erstellte Inhalte können online verbreitet werden und umgekehrt. Oftmals können Hassreden, die in digitalen Medien verbreitet werden, sogenannte „Offline“-Konsequenzen haben, indem es zu Gewalt gegenüber Zielpersonen bestimmter Narrative kommt. Bei Offline-Desinformation kann es sich zum Beispiel auch um die Art von Kampagnen handeln, die in ländlichen Gemeinden – zum Beispiel in den Bundesstaaten Sabah und Sarawak in Malaysia oder in den nordöstlichen Bundesstaaten Indiens – zu beobachten sind, wo sie in lokalen Sprachen und Dialekten durchgeführt wurden. Dies können politische Reden auf Kundgebungen, Flugblätter in der Landessprache oder andere Formen der nicht digitalen Verbreitung sein.
Gehen wir zeitlich einen Schritt zurück. Wie kamen Sie 2015 auf die Idee, den Digital Asia Hub zu gründen, einen Think-Tank, der sich mit digitalen Themen speziell in Asien beschäftigt?
Als ich 2006 anfing, als IT-Anwältin in Indien zu arbeiten, war ich fast die Einzige in diesem Feld. Keiner verstand, was ich tat. Also ging ich in die USA und nach London, studierte und arbeitete dort, bis ich 2015 beschloss, zurück nach Indien zu gehen. Dort wurde damals ein großes Regierungsprogramm für neue Personalausweise ausgerollt, das der Bevölkerung biometrische Daten – Fingerabdrücke, Iris-Scans und Fotos – abnahm und zentral speicherte. Zu meinem Entsetzen protestierte niemand dagegen. Niemand erkundigte sich nach eventuellen Sicherheitslücken oder ob die Privatsphäre der Menschen durch die Regierung ausreichend geschützt sei. Als ich diese Fragen stellte, sagten die Leute: „Du warst zu lange in Europa.“
Das Problem dabei ist, dass in Indien über eine Milliarde Menschen leben, viele arm und ungebildet, die anfälliger sind für Betrug und Datenmissbrauch. Diese Menschen müssen geschützt werden, weil sich ihre ohnehin prekäre Situation sonst noch verschlimmert. Dies gilt auch für andere Länder Asiens. Die Menschen hier glauben immer noch, dass Datenschutz ein „westliches Konzept“ ist, dass Menschenrechte „Luxus“ sind.
Desinformation kann auch dazu führen, dass Macht in den Händen der etablierten Parteien verankert wird. Dadurch werden alternative Möglichkeiten verdrängt, die für eine Bevölkerung oder ein Land möglicherweise besser sein könnten.
- Malavika Jayaram
Und so wurden Sie von einer praktizierenden Anwältin zur Aktivistin.
Ja, weil mich die Einstellung der Menschen so verrückt gemacht hat. Ich fing an, Proteste und Veranstaltungen zu den neuen biometrischen Ausweisen durchzuführen. Durch meine Arbeit bekam ich ein Fellowship in Harvard, und dort kam die Idee auf, den Digital Asia Hub zu gründen. Warum der Fokus auf Asien? Weil in dieser Region die meisten Menschen weltweit soziale Medien nutzen. Weil es hier Milliarden Konsument:innen für digitale Produkte und Services gibt, aber auch viele Inhalte und Apps produziert werden. Wir wollten einerseits lernen, wie Entwicklungsländer das Internet nutzen und welche Chancen und Gefahren es für die Bevölkerungen birgt, andererseits aber auch untersuchen, wie Gesetze Technologie beeinflussen und umgekehrt.
Woran arbeiten Sie derzeit?
Derzeit bereiten wir eine Konferenz zu Desinformation für Ende Oktober in Bangkok in Kooperation mit dem Projekt „Upgrade Democracy“ der Bertelsmann Stiftung vor. Dabei untersuchen wir im Vorfeld elf Länder in Asien, die demnächst Wahlen abhalten, darauf, woher Desinformation kommt und wie sie die Gesellschaft spaltet. Dabei schauen wir uns nur die Zeit nach der Pandemie an, denn Covid hat Asien rasant digitalisiert. Mehr Menschen sind online. Wir wollen herausfinden, ob dies zu mehr Desinformation geführt hat. Bei der Konferenz kommen Expert:innen aus der Region zusammen, um die Ergebnisse zu besprechen.
Müssen wir uns selbst mehr schulen, um nicht auf Desinformation reinzufallen?
Der Meinung bin ich nicht. Für Tech-Firmen ist es einfach, Mechanismen einzubauen, die Nutzer:innen vor Betrug schützen. Sie sollten mehr in die Verantwortung genommen werden. Gleiches gilt für Regierungen. Ansonsten wird diese auf die Menschen übertragen, die am wenigsten Informationen haben, die vielleicht als Erste in ihrer Familie ein Handy nutzen. Es wird oft gesagt: „Du musst dich selbst schützen.“ Aber die wenigsten wissen, wie das geht. Dies gilt vor allem in Entwicklungsländern, wo Ungleichheit, Analphabetismus und Prekarität die Fähigkeit, sich selbst zu schützen, behindern. Das heißt nicht, dass die Menschen dort nicht besser darin werden können, gefälschte Videos oder Inhalte zu erkennen. Tech-Firmen und Regierungen haben trotzdem viel mehr Ressourcen, um gegen Desinformation vorzugehen.
Wie können digitale Plattformen Desinformation kontrollieren und regulieren?
Die Idee, dass Plattformen sich selbst regulieren werden, ist nicht aufgegangen. So wie sich die Selbstregulierung von Finanzinstituten und -märkten als völlig unzureichend – oder geradezu gefährlich – erwiesen hat, kann die Idee der Selbstregulierung im Kontext von Informationsökosystemen ein echtes Ablenkungsmanöver sein. Die Plattformen weigern sich, ihre Blackbox-Systeme einer Prüfung zu unterziehen, mit der Begründung, dass sie dadurch gezwungen wären, ihr Geschäftsgeheimnis preiszugeben, was ihre Wettbewerbsfähigkeit schmälern würde. Allein Druck von Regulierungsbehörden kann sie dazu zwingen – und manchmal auch aktivistische Nutzer:innen. Unternehmen benutzen die Privatsphäre oft als Schutzschild – in den sie ansonsten gerne eindringen –, um keine Daten weitergeben zu müssen. Es gibt jedoch hervorragende Möglichkeiten, die Privatsphäre zu schützen, indem man Daten in ihrer Gesamtheit weitergibt, ohne die persönlichen Daten von Einzelpersonen preiszugeben.
Was können Regierungen, die das Ziel von Desinformation sind, konkret tun, insbesondere im Vorfeld von Wahlen?
Ein Lehrer von mir hat gesagt, dass man nicht erst mit der Absicherung seines Daches und seiner Wände beginnen sollte, wenn das Gewitter oder der Hurrikan schon begonnen hat. Ich denke, daraus ergibt sich eine großartige Analogie: Man muss Desinformation bekämpfen, lange bevor Wahlen vor der Tür stehen. Die Bedingungen, unter denen Desinformation gedeiht, sind schon vorher gegeben.
Sind Regierungen die Zielscheibe einer Informationsmanipulation durch ausländische Quellen, geht es um die Schwächung der Gesellschaft. Das kann schleichend passieren, indem immer mehr polarisiert wird und Disharmonien gesät werden. Regierungen müssen entschieden dagegen vorgehen und ausreichend Ressourcen für die Bekämpfung der Quellen bereitstellen. Häufig fehlt in diesen Fragen jedoch das nötige Fachwissen, darum sollten sie die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen und der Zivilgesellschaft fördern. Dies ist nicht nur hilfreich, um zu erforschen, um welche Formen der Desinformation es sich handelt und welches die besten Methoden sind, um ihnen zu begegnen, sondern auch, um Kampagnen zu starten, die sich an Lai:innen richten. Partnerschaften mit Nichtregierungsorganisationen können bei der Verbreitung von Desinformationskampagnen in bestimmten Bevölkerungsgruppen helfen, die besonders gefährdet oder am wenigsten in der Lage sind, die Vorgänge zu verarbeiten.
Der Glaube, dass sich Inder:innen, Chines:innen, Asiat:innen im Allgemeinen kulturell nicht um Privatsphäre kümmern und dass es sich um ein westliches Konstrukt handelt, das in diese Region importiert wurde, ist falsch. Privatsphäre ist kein Luxus oder etwas, das nur den Reichen, Mächtigen und Privilegierten zur Verfügung steht.
- Malavika Jayaram
Und doch scheinen Tech-Firmen und Regierungen mit der Masse an Desinformation überfordert.
Deswegen begeistern sich so viele, vor allem junge Menschen für Dezentralisierung. Sie sind es satt, dass große Player die Macht über ihre Informationen haben. Sie mögen die Idee einer dezentralen Speicherung und Verarbeitung von Daten auf Systemen wie der Blockchain. Sie bevorzugen Open-Source-Software und Kryptowährungen, die nicht an ein Unternehmen oder eine Zentralbank gebunden sind. Es ist eine Bewegung für mehr Transparenz und Kontrolle. Natürlich gibt es auch hier wieder Gefahren. Services wie ChatGPT erlauben es quasi jeder und jedem, Code zu schreiben, ohne zu wissen, welche Schutzmechanismen eingebaut werden müssen, damit das Endprodukt für die Nutzer:innen sicher ist.
Zynische Regierungen bedienen sich gerne der Logik, dass Menschen, die kein Essen auf dem Tisch haben, keinen Datenschutz brauchen. Sie hätten andere Probleme. Stimmt das?
Nein. Der Glaube, dass sich Inder:innen, Chines:innen, Asiat:innen im Allgemeinen kulturell nicht um Privatsphäre kümmern und dass es sich um ein westliches Konstrukt handelt, das in diese Region importiert wurde, ist falsch. Privatsphäre ist kein Luxus oder etwas, das nur den Reichen, Mächtigen und Privilegierten zur Verfügung steht. Sogar der Westen hat sich angesichts der strukturellen Ungleichheiten, die fortbestehen, damit auseinandergesetzt: Auch dort haben bestimmte Gemeinschaften weniger Zugang zu Grundrechten als andere. Es ist ein globaler Kampf, aber auch eine Gelegenheit für große transnationale Solidarität und Austausch. Von Erfolgsgeschichten aus aller Welt zu lernen, kann äußerst ermutigend sein.
Das Interview mit Malavika Jayaram ist zuerst in der aktuellen PDF-Ausgabe des change Magazins der Bertelsmann Stiftung erschienen. Jetzt einen Blick reinwerfen und weitere spannende Inhalte entdecken!