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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Deshalb müssen wir als Gesellschaft mehr zusammenhalten

Eine Gruppe junger Menschen rennt durch di Wüste
ESSAY
Jed Villejo – unsplash.com/license

Juliane Marie Schreiber: Eine Rebellion für den Zusammenhalt

  • Jed Villejo – unsplash.com/license
  • 18. Januar 2024

Statt uns nur um uns selbst zu kümmern, sollten wir mehr zusammenhalten, findet die Publizistin Juliane Marie Schreiber. Im change-Essay erklärt sie, warum nicht alles eine Frage des richtigen Mindsets ist und warum wir die wachsende Ungleichheit nur gemeinsam bekämpfen können.

Wenn nicht alles so läuft, wie du es dir wünschst gibst du dir meistens selbst die Schuld dafür? Dazu neigen heute ziemlich viele Menschen! Dabei liegt sehr viel von dem, was in unserem Leben gut oder nicht so gut läuft, eigentlich gar nicht unbedingt in unserer eigenen Hand, sondern oft auch in den äußeren Umständen begründet. Im Essay schreibt Juliane Schreiber darüber, warum wir uns dessen wieder mehr bewusst werden müssen – und warum wir eine gerechtere Welt für alle und mehr Chancengleichheit nur gemeinsam erschaffen können.

Juliane Marie Schreiber vor einer weißen Wand.

Juliane Marie Schreiber

… ist Politologin, Publizistin und Autorin. Als freie Journalistin ist sie für verschiedene Zeitungen, Magazine und das Fernsehen tätig. Im März 2022 erschien ihr Buch „Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“ im Piper Verlag. Juliane ist außerdem Advisor Communications & Advocacy beim Verein HÀWAR.help.

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Überall heißt es, sei positiv und du kannst alles schaffen

„Denk positiv!“ „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ „Du kannst alles schaffen, wenn du nur an dich glaubst!“ Unternehmen, Ratgeber, Coaches und vor allem die Werbung fordern uns andauernd auf, positiv zu sein. Wir sollen die beste Version unseres Selbst werden, Scheitern als Chance begreifen und für Niederlagen dankbar sein, um an ihnen zu wachsen.

Ist wirklich alles eine Frage des richtigen „Mindsets“?

Ideengeschichtlich entstammt diese Ideologie des Positiven der sogenannten „Positiven Psychologie“ und ist Symptom einer längerfristigen Entwicklung. Die Psychologie ist in alle Lebensbereiche vorgedrungen und ihr Vokabular ist plötzlich auch dort zu finden, wo sie früher selten auftauchte: im Alltag, Berufsleben und vor allem in der Politik. Wir begreifen Probleme heute vor allem individuell und kaum noch gesellschaftlich. Statt den Zusammenhalt zu stärken und gemeinsam die großen Herausforderungen der Zukunft anzugehen, sind wir zunehmend zu Einzelkämpfern geworden, im Konkurrenzkampf mit anderen. Alles eine Frage des richtigen „Mindsets“!
 

Eine junge Frau beim Spaziergang durch einen lichtdurchfluteten Wald, die Hände in die Haare greifend.

Wie du deine innere Stärke in Krisenzeiten aufbaust


Die hyperindividuelle Marktmentalität sickert immer weiter ins Bewusstsein

Dieser Wandel ist auch ein Merkmal der neoliberalen Wende in der Politik. Bei der Mehrheit der Bevölkerung sickerte die hyperindividuelle Marktmentalität in den letzten Jahrzehnten immer weiter ins Bewusstsein. Man glaubte, auch für die Dinge verantwortlich zu sein, für die eigentlich ein Sozialstaat zuständig ist. Das betrifft nicht nur faire Arbeitsbedingungen, sondern viele weitere grundlegende Bereiche, wie den Zugang zu guter Bildung für alle (statt nur an Privatschulen), oder eine angemessene Gesundheitsversorgung für alle (statt nur für Privat versicherte). Zwar ist es in Deutschland noch nicht so drastisch wie in den USA, doch eine Tendenz in diese Richtung zeichnet sich ab.
 

Porträt von Juliane Marie Schreiber

„Die heutige Fetischisierung des ‚richtigen Mindsets‘ hat gesellschaftliche Folgen, denn sie macht Menschen kaltherzig und blind für die Macht der Umstände. Wir haben die Konflikte nach innen verlagert: Lieber kämpfen wir allein mit uns und steigern im Stillen unsere Belastbarkeit, statt gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen zu streiten.“

– Juliane Marie Schreiber


Hängt Erfolg wirklich nur von unseren individuellen Leistungen ab?

Dabei übersehen wir oft, welchen Vorteil unsere öffentlichen Güter haben. Doch in der neoliberalen Weltsicht wird Arbeit zunehmend eine Frage der individuellen „Hands-on-Mentalität“, Bildung eine Frage des persönlichen Talents, und Gesundheit eine Frage des eigenen Lebensstils. Während der Corona-Impfkampagne konnte man das gut beobachten, als die Impf-Priorisierung aufgehoben wurde: Wer im Frühjahr 2021 noch immer nicht geimpft war, musste selbst um einen Termin kämpfen, und die Älteren und die weniger Internetaffinen hatten das Nachsehen.
 

Porträt von Juliane Marie Schreiber

„Wer es in unserer Gesellschaft ‚nicht geschafft‘ hat, wird aber oft abgekanzelt als Person, die nicht resilient genug oder deren Wille einfach nicht groß genug war, kurz: Man hätte den Abstieg auch irgendwie verdient.“

– Juliane Marie Schreiber


Privilegierte Menschen haben eine ganze Flughafenhalle an Möglichkeiten

Natürlich kommt es auf die Entscheidungen von uns Einzelnen an und wir sind auch selbst für unser Leben verantwortlich. Und sicher, wer sich anstrengt, wird gegenüber seinem trägen eineiigen Zwilling innerhalb seines Möglichkeitskorridors auch erfolgreicher sein. Aber es ist illusorisch, von gleichen Startbedingungen für einen erfolgreichen Lebensweg auszugehen. Privilegierte Menschen haben von vornherein einen viel weiteren Korridor an Möglichkeiten – man könnte sagen, eine ganze Flughafenhalle. Nur weil alle, die „es geschafft haben“ sich angestrengt haben, gilt nicht der Umkehrschluss, alle, die sich anstrengen, werden auch Erfolg haben. Wer es in unserer Gesellschaft „nicht geschafft“ hat, wird aber oft abgekanzelt als Person, die nicht resilient genug oder deren Wille einfach nicht groß genug war, kurz: Man hätte den Abstieg auch verdient.
 

Fünf Hände mit unterschiedlichen Hautfarben.

Religiöses Engagement: Der Glaube an den Zusammenhalt


Die wachsende Ungleichheit wird den Einzelnen zugeschrieben

Sicher, der Begriff „Eigenverantwortung“ klingt immer gut, und am allerbesten, wenn man alle notwendigen Startbedingungen hat. „Eigenverantwortung“ ist aber auch zu einem politischen Kampfbegriff geworden, um die wachsende Ungleichheit den Einzelnen zuzuschreiben. Je mehr sozialer Abstieg mit persönlichem Versagen begründet wird, desto größer wird die Angst vor der Stigmatisierung und damit der Zwang zur eigenen Opferbereitschaft.
 

Das neue change Magazin ist da!

Neugierig geworden? Die Ausgabe 2/23 des change Magazins gibt es hier kostenlos zum Download.


Statt jeder für sich: gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen streiten!

Die heutige Fetischisierung des „richtigen Mindsets“ hat gesellschaftliche Folgen, denn sie macht Menschen kaltherzig und blind für die Macht der Umstände. Wir haben die Konflikte nach innen verlagert: Lieber kämpfen wir allein mit uns und steigern im Stillen unsere Belastbarkeit, statt gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen zu streiten. So stabilisiert die Ideologie des Positiven den Status quo und gefährdet den Zusammenhalt, weil sie eine Scheinerklärung dafür liefert, die Gesellschaft in „Gewinner“ und „Verlierer“ aufzuteilen. Wir müssen den Fokus wieder verschieben: Vom Hyperindividualismus zurück zu den sozialen Bedingungen – damit Zusammenhalt gelingen kann.

Juliane Marie Schreibers Essay wurde zuerst in der PDF-Ausgabe des change Magazins der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht. Jetzt herunterladen und weitere spannende Beiträge genießen!