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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Das Gesellschaftsjahr: Chancen und Herausforderungen

Eine Gruppe junger Menschen steht im Kreis und streckt ihre Hände in der Mitte übereinander. Die Aufnahme ist von unten nach oben fotografiert, wodurch die lachenden Gesichter und die ausgestreckten Arme im Vordergrund stehen.
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Davide Angelini - stock.adobe.com

Das Gesellschaftsjahr zwischen Freiwilligkeit und Pflicht: Was spricht dafür, was dagegen?

  • Davide Angelini - stock.adobe.com
  • 11. September 2025

Der 15. September ist der Tag der Demokratie. Ein Tag, der zeigen soll: Demokratie entsteht nicht nur am Wahltag, sondern durch aktives Mitwirken. Genau darum dreht sich auch die aktuelle Debatte über ein Gesellschaftsjahr für junge Menschen. Soll es freiwillig oder verpflichtend sein? Wir schauen uns die Argumente an.

Ein Jahr für die Gemeinschaft. Das ist die Idee hinter dem Gesellschaftsjahr. Junge Menschen sollen nach der Schule die Möglichkeit bekommen, sich in sozialen, ökologischen oder kulturellen Berufen und Projekten zu engagieren. Manche fordern sogar, dass dieses Jahr verpflichtend für alle wird. Doch diese Idee stößt nicht überall auf Zustimmung. Politik, Verbände und Jugendorganisationen sind gespalten: Die einen sehen darin eine große Chance für mehr Zusammenhalt, Orientierung und Verantwortung. Die anderen warnen vor Zwang, Überlastung und falschen Erwartungen. Wir werfen einen Blick auf alle Seiten: Pflicht, Freiwilligkeit oder irgendwas dazwischen?

Freiwilliges Engagement in Deutschland: Status quo

Jedes Jahr beginnen in Deutschland mehr als 100.000 Menschen einen Freiwilligendienst. Mit rund 47.000 jungen Teilnehmer:innen findet das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) dabei den größten Zuspruch, gefolgt vom Bundesfreiwilligendienst (BFD) mit etwa 34.000 bis 36.000 Plätzen. Ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) absolvieren dagegen nur rund 3.200 Freiwillige. Für viele junge Menschen sind diese Programme ein wichtiger Einstieg, um Verantwortung zu übernehmen, Erfahrungen zu sammeln und eine Orientierung für ihre Zukunft zu finden.

Gesellschaftsjahr: Woher kommt die Idee?

Die Idee vom Gesellschaftsjahr ist nicht neu. Früher gab es in Deutschland die Wehrpflicht, das heißt, junge Männer mussten nach der Schule zur Bundeswehr gehen. Wer nicht zur Armee wollte, konnte den Zivildienst leisten, beispielsweise in einem Krankenhaus oder Kindergarten. 2011 wurde diese Pflicht ausgesetzt. Seitdem ist alles freiwillig: BFD, FSJ, FÖJ oder eben auch der Dienst bei der Bundeswehr.

Die Diskussion um eine stärkere Bundeswehr, der Wunsch nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Fachkräftemangel haben die Idee des Gesellschaftsjahres wieder in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten gerückt. Die CDU möchte erst die Wehrpflicht schrittweise wieder einführen und dann ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Das Gesellschaftsjahr ist dabei eine Art „Neudenken“ der alten Wehr- und Zivildienstidee: Diesmal sollen alle mitmachen, auch die Frauen, egal ob beim Militär, in sozialen Einrichtungen oder bei Umweltprojekten.
 

Podcastcover mit hellblauem Hintergrund und wellenförmigen Linien. Oben steht „Bertelsmann Stiftung“ in weißer Schrift. Der Haupttitel „ZUKUNFT GESTALTEN“ ist in großen weißen Buchstaben zentral platziert. Unten sind zwei Porträtfotos zu sehen.

Jetzt reinhören!

In dem Podcast „Zukunft gestalten“ der Bertelsmann Stiftung sprechen Malva Sucker und Jochen Arntz mit spannenden Gästen über Themen, die unsere Gesellschaft beschäftigen. In der Folge „Freiwilligendienste: Ein ungehobener Schatz für die Gesellschaft“ geht es um die Frage, warum Freiwilligendienste so wertvoll sind und was passieren muss, damit noch mehr Menschen davon profitieren können.


Lernen von anderen Ländern

Ein Blick ins Ausland zeigt, wie unterschiedlich ein Gesellschaftsjahr gestaltet werden kann. In Schweden, Dänemark und Norwegen gibt es beispielsweise eine Wehrpflicht, die auch Frauen einbezieht, während Frankreich mit dem Service national universel (SNU) ein freiwilliges Programm für junge Menschen etabliert hat. Es gibt viele verschiedene Wege, Jugendliche in gesellschaftliches Engagement einzubinden – sei es militärisch, zivil oder sozial.
 


Persönliche Freiheit oder Orientierungshilfe?

Eine Ausbildung machen, studieren, reisen oder sich freiwillig engagieren: Die Möglichkeiten nach der Schule sind endlos. Viele junge Menschen möchten selbst entscheiden, wie sie diese Zeit nutzen. Das Gesellschaftsjahr als Pflicht einzuführen, könnte als Eingriff in die persönliche Freiheit und in das Grundrecht auf freie Berufswahl (Art. 12 GG) verstanden werden.

Nach der Schule sind aber auch viele junge Menschen von den vielen Möglichkeiten überfordert und würden sich über Orientierung freuen. Während des freiwilligen Engagements entdecken viele neue Stärken, entwickeln Teamfähigkeit und sammeln wertvolle Lebenserfahrung. Für manche wird das Jahr sogar zum Sprungbrett in einen Beruf oder ein Ehrenamt, das sie sonst nie kennengelernt hätten.
 

Eine Person mit der Aufschrift "Volunteer" (engl. "Freiwillige:r") steht mit dem Rücken zu uns und schießt ein Foto einer Szene im Hintergrund

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Fehlende Motivation durch Verpflichtung

Engagement und Pflicht: Passt das zusammen? Gesellschaftliches Engagement für junge Menschen verpflichtend einzuführen, steht in der Kritik. Viele sagen: Soziales Engagement funktioniert am besten, wenn es freiwillig passiert. Wer gegen seinen Willen in eine Einrichtung geschickt wird, bringe weniger Motivation mit und das schade am Ende mehr, als es helfe. Tatsächlich zeigt sich: Auch wenn die Mehrheit in Deutschland ein verpflichtendes Dienstjahr im sozialen Bereich oder bei der Bundeswehr unterstützt, fällt die Zustimmung in der jüngeren Altersgruppe niedriger aus als in den älteren Jahrgängen.

Engagement, das bleibt

Eine Studie über das Programm „Experience Corps“ (EC) hat gezeigt, dass Menschen, die positive Erfahrungen in ihrem Ehrenamt sammeln, oft langfristig engagiert bleiben. Ein Gesellschaftsjahr könnte den Einstieg erleichtern, besonders für diejenigen, die bisher wenig Berührungspunkte damit hatten. Außerdem wissen viele junge Menschen gar nicht, welche Möglichkeiten es gibt. Ein verpflichtendes Jahr könnte diese Türen für alle öffnen.
 

Eine junge Frau spielt lachend mit zwei Kindern in einer Kindertagesstätte

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Die Lösung für den Fachkräftemangel?

Die Hoffnung hinter der Idee des Gesellschaftsjahres: Wer hier soziale Berufe hautnah erlebt, könnte sich später eher für eine Karriere in diesen Bereichen entscheiden. Das würde langfristig den Arbeitsmarkt stärken. Gleichzeitig könnte ein verpflichtendes Jahr die gesellschaftliche Anerkennung für diese Berufe erhöhen. Allerdings könnte es ebenso Verdrängungseffekte im Arbeitsmarkt hervorrufen, weil es für Einrichtungen preiswerter ist, mit Dienstleistenden zu arbeiten.

Die Idee greift daher möglicherweise zu kurz. Dass so viele Fachkräfte in Kitas, Schulen oder Krankenhäusern fehlen, liegt nicht daran, dass niemand helfen will. Es liegt auch an den Missständen in diesen Berufen: schlechte Bezahlung und Überlastung. Deswegen würde ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr sehr wahrscheinlich nicht das Problem des Fachkräftemangels lösen.

Engagement: Eine Frage des Geldes

Ein verpflichtendes Jahr bedeutet: später ins Studium, später ins Berufsleben, später Geld verdienen, später in die Rentenkasse einzahlen. Das ist für viele junge Menschen und für den Arbeitsmarkt nachteilig, gerade in Zeiten, in denen jede Fachkraft gebraucht wird. Manche Verbände befürchten auch, dass junge Menschen als günstige Arbeitskräfte genutzt werden könnten.
 

„Aktuell können sich viele junge Menschen den Freiwilligendienst kaum leisten, weil sie nur geringe Aufwandsentschädigungen oder Taschengelder bekommen, auch wenn sie 40 Stunden die Woche arbeiten. Das können sich nur die Jugendlichen leisten, die gute finanzielle Voraussetzungen haben.“

Marie Beimen, Sprecherin der Petitions-Kampagne #Freiwilligendienststärken


Auch die Freiwilligen profitieren

Eine ASB-Studie zeigt: Freiwilliges Engagement stärkt nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Engagierten selbst. Besonders junge Menschen suchen nach Gemeinschaft und Orientierung. Im Ehrenamt finden sie beides. Es bietet die Möglichkeit, eigene Stärken zu entdecken und Verantwortung zu übernehmen. Damit ihnen Engagement langfristig Spaß macht, ist Flexibilität und Wertschätzung entscheidend.

Organisatorische Herausforderungen

Schon heute stoßen Freiwilligendienste an Grenzen. Es fehlt an Einsatzstellen und Fachkräften, die die jungen Leute gut begleiten können. Würden plötzlich ganze Jahrgänge verpflichtet werden, wären die Strukturen überlastet. Hinzu kommt, dass eine qualitativ hochwertige Betreuung Zeit und Ressourcen erfordert, damit junge Menschen echte Lernerfahrungen sammeln. Ohne ausreichende Planung und Personal könnte ein verpflichtendes Jahr daher schnell mehr Probleme schaffen als lösen.
 

„Ein Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst reduziert Zugangshürden und ermöglicht, statt zu verpflichten.“

Dr. Gerd Placke, Experte für Demokratie und gesellschaftliches Engagement bei der Bertelsmann Stiftung


Der Kompromiss: Rechtsanspruch statt Pflicht

Statt über Zwang zu diskutieren, setzt die Bertelsmann Stiftung auf einen Mittelweg: den Rechtsanspruch auf ein Gesellschaftsjahr. Dahinter steckt eine einfache Idee: Jeder junge Mensch, der ein Gesellschaftsjahr machen möchte, soll garantiert auch einen Platz bekommen. Egal ob im sozialen Bereich, im Umweltschutz, im Bevölkerungsschutz oder sogar bei der Bundeswehr. Niemand soll abgewiesen werden müssen.

Das Konzept verbindet die Vorteile von Pflicht und Freiwilligkeit: Niemand wird gezwungen, aber alle, die bereit sind, bekommen die Chance, etwas für die Gesellschaft zu bewegen.

Die Bertelsmann Stiftung beschäftigt sich regelmäßig mit Ansätzen zur Stärkung des gesellschaftlichen Engagements. Auf change erfährst du, welche Ideen die Expert:innen der Stiftung entwickeln, um unsere Gesellschaft zukunftsfähiger zu machen. Schau rein und entdecke mehr!