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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Antisemitismus erkennen und dagegen vorgehen

Ein Mann schaut durch eine Lupe
Interview
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So entlarvst du Antisemitismus

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  • 7. Oktober 2022

Seit Jahrhunderten gibt es antisemitische Verschwörungsmythen. Antisemitismus zeigt sich manchmal ganz offen, oft aber auch verdeckt und codiert. Wie checkst du, ob jemand antisemitische Sprüche von sich gibt? Und was kannst du dagegen tun?

Bill Gates ist für die Coronapandemie verantwortlich, die Wall Street lenkt die Weltpolitik, es gibt geheime Strippenzieher:innen, die die Medien steuern – vielleicht bist du diesen Verschwörungserzählungen auch schon einmal begegnet. Sie alle haben gemeinsam, dass sie antisemitisch sind, auch wenn sie nicht offen von Jüd:innen handeln. Wie man diese und andere antisemitische Rhetorik entlarvt und damit umgeht, erklärt der Antisemitismus-Experte Stefan Lauer im change-Interview.
 

Porträt von Stefan Lauer-Jakobson

Stefan Lauer

… ist Mitglied der Redaktion Belltower.News, einer Plattform für digitale Zivilgesellschaft der Amadeu Antonio Stiftung. Dort schreibt er zu Themen rund um Verschwörungsideologien, Rechtsextremismus und Antisemitismus. Er ist Mitautor der Publikation „No World Order – Wie antisemitische Verschwörungsideologien die Welt erklären“. Die Broschüre gibt es kostenlos zum Download (PDF, 1,8 MB).

Stefan Lauers Twitter
Stefan Lauers Artikel auf Belltower.News


change | Bevor wir zur Frage kommen, wie man antisemitische Rhetorik entlarvt, müssen wir erst einmal klären: Was sind die gängigsten Formen von Antisemitismus?

Stefan Lauer | Forscher:innen sprechen vor allem von sekundärem, strukturellem und israelbezogenem Antisemitismus.

Kannst du Beispiele nennen?

Sekundären und strukturellen Antisemitismus beobachten wir zum Beispiel bei den Coronademos beziehungsweise im gesamten Umfeld der „Querdenken“-Bewegung. Der sogenannte „Judenstern“, auf dem „ungeimpft“ steht, ist oft auf diesen Demos zu sehen. Das ist eine Verharmlosung des Holocausts und damit sekundär antisemitisch.

Und was versteht man unter strukturellem Antisemitismus?

Darunter versteht man Argumentationsformen und -wege, die antisemitische Stereotype aufnehmen, ohne über Jüd:innen direkt zu sprechen.

Antisemitismus ohne Jüd:innen?

Genau. Um beim Beispiel zu bleiben: Auf vielen Coronademos wird Bill Gates als Hauptverantwortlicher für die Coronapandemie dargestellt. Oder Klaus Schwab, der Chef des Weltwirtschaftsforums, ist in der Welt der Verschwörungsideolog:innen für den sogenannten „Great Reset“ zuständig. Das ist eine Verschwörungserzählung, nach der die Pandemie nur der Anlass für eine neue Weltordnung ist, die im Geheimen von den Wirtschaftseliten geplant wurde.
 

Porträt von Stefan Lauer

„Es gibt fast keine Verschwörungserzählung, in der kein Antisemitismus steckt.“

– Stefan Lauer, Amadeu Antonio Stiftung


Das klingt nach sehr einfachen Erklärungen für ziemlich komplizierte Dinge.

Wir leben in einer hochkomplexen Welt, die schwer zu durchschauen ist und viele Widersprüche enthält. Wo immer Dinge nicht 100-prozentig klar sind, suchen Menschen nach Klarheit – und damit auch eine:n Schuldige:n. Historisch betrachtet traf das oft Jüd:innen, die für schlechte Ernten im Mittelalter verantwortlich gemacht wurden, für tote Kinder, später die Weltwirtschaftskrise, den verlorenen Weltkrieg oder was auch immer. So wird „das Böse“ personifiziert. Mittlerweile ist dieser Antisemitismus eine Kulturtechnik geworden. Er existiert schon sehr lange, sodass sich die antisemitischen Argumentationen so stark eingegraben haben, dass sie auch anders angewendet werden, wie zum Beispiel bei Bill Gates. Anetta Kahane, die Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung, hat es auf den Punkt gebracht: „Antisemitismus ist das Betriebssystem, auf dem viele Verschwörungserzählungen laufen.“ Es gibt fast keine Verschwörungserzählung, in der kein Antisemitismus steckt.

Du erwähntest am Anfang auch den israelbezogenen Antisemitismus.

Diese Form ist weit verbreitet. Das ist ein Antisemitismus, der auch stark in politisch links verorteten Bewegungen verwurzelt ist. Israel wird in dieser Logik als Kolonialprojekt betrachtet und deswegen abgelehnt. Wenn man die Geschichte dieser Erzählung analysiert, sieht man, dass sie eine Weiterentwicklung von modernem Antisemitismus ist. Schon im Nationalsozialismus wurde die „These“ vertreten, dass Jüd:innen keinen eigenen Staat haben könnten, weil sie nur „Parasiten“ seien. Selbst wenn es solch einen Staat gäbe, wäre er ein künstliches Gebilde. Diese Argumentation hat viele Parallelen zum israelbezogenen Antisemitismus von heute.
 

Ein Mann mit Brille sitzt vor seinem Computer mit einem Stift in der Hand.

„Wir reflektieren zu wenig über das, was wir online tun“


Es gibt aber doch auch legitime Kritik an der Politik Israels, die nicht antisemitisch ist.

Klar kann man politische Entscheidungen kritisieren. Ob die Grenze zum Antisemitismus überschritten ist, lässt sich schnell mit der sogenannten 3D-Regel herausfinden. Die drei Ds stehen für Delegitimierung, Doppelstandards und Dämonisierung. Delegitimierung wäre, wenn jemand behauptet, Israel habe kein Recht zu existieren. Doppelstandards sind der Fall, wenn man Israel Dinge vorwirft, über die man bei anderen Staaten hinwegsieht, zum Beispiel Diskriminierung oder Rassismus. Und Dämonisierung ist am Werk, wenn beispielsweise behauptet wird, Israel würde sich an „Nazimethoden“ bedienen.

Worin besteht der Unterschied von Antisemitismus zu Rassismus oder Islamfeindlichkeit?

Beim Rassismus geht es um die eigene Überlegenheit, eine Abwertung des Gegenübers: Die Person ist dann wahlweise faul, hässlich, dumm und so weiter. Beim Antisemitismus hingegen handelt es sich um eine bizarre Überbewertung, Jüd:innen werden Superkräfte zugewiesen. Sie kontrollieren die Medien und Banken, die Film- und Pharmaindustrie. Da kommen dann auch die eben erwähnten Verschwörungserzählungen ins Spiel. Was die Frage nach Islamfeindlichkeit betrifft: Antimuslimischer Rassismus gibt oft vor, religiös begründet zu sein, wohingegen moderner Antisemitismus nichts mit der Religion des Judentums an sich zu tun hat.

Die Beispiele für antisemitische Rhetorik, die du bisher gebracht hast, wirken schon absurd. Was mache ich, wenn mir jemand solche Storys auftischt?

Das ist etwas kompliziert. Gegenrede zu solchen Verschwörungserzählungen ist sehr schwierig. Wenn du es mit einer Person aus deinem persönlichen Umfeld zu tun hast, stehen die Chancen am besten, dagegen vorzugehen. Du kannst dann beispielsweise fragen, was für Quellen die Person benutzt hat. Eine andere Strategie ist das sogenannte „Debunking“, also das Entlarven mit Gegenargumenten. Das kann allerdings auch dazu führen, dass sich die so konfrontierte Person noch weiter in ihre Verschwörungserzählung verstrickt. Die Amadeu Antonio Stiftung hat acht Tipps verfasst, wie man mit Verschwörungserzählungen im Freundes- oder Familienkreis umgehen kann.
 

Kirschtomaten

Sechs Dinge, die du noch nicht über Israel wusstest


Und wenn ich die Person nicht kenne? Wenn antisemitische Verschwörungen zum Beispiel auf Instagram oder Twitter verbreitet werden?

Wenn antisemitische Verschwörungserzählungen in der digitalen Öffentlichkeit verbreitet werden, finde ich Gegenrede total wichtig. Dabei solltest du aber auch im Hinterkopf behalten, dass du die Person, die so etwas äußert, wahrscheinlich nicht überzeugen kannst. Gegenrede hat dann eher die Funktion, das Umfeld dieser Person zu erreichen und zu zeigen, dass solche Äußerungen nicht unwidersprochen bleiben. Auch hier haben wir von der Amadeu Antonio Stiftung Tipps für dich, wie du auf Verschwörungserzählungen in den sozialen Medien reagieren kannst.

Danke für das Gespräch!

Gegen jeden Antisemitismus! Die Bertelsmann Stiftung setzt sich für ein demokratisches Miteinander ein. Mit dem Projekt „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ untersucht sie gesellschaftliche Entwicklungen in Zeiten tiefgehender Veränderungsprozesse. In einem Blogbeitrag für das Projekt beschreibt der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Dr. Michael Blume, welche Auswirkungen Verschwörungsmythen auf den sozialen Zusammenhalt haben.