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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Kriegsreporterin Düzen Tekkal im Interview

Die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal steht vor einer hellgrauen Wand, den Oberkörper zu uns gewendet. Ihre linke Hand ruht auf einem Geländer. Sie schaut leicht lächelnd in die Kamera.
Interview
Sebastian Schramm

„Wir wollen nicht, dass die Welt diesen Völkermord vergisst“

  • Sebastian Schramm
  • 10. November 2021

Düzen Tekkal ist die prominenteste Stimme der Jesid:innen in Deutschland. Ihre Kriegsreportage über den Genozid an ihrer Religionsgemeinschaft hat die Welt wachgerüttelt. change sprach mit der Menschenrechtsaktivistin und Sozialgründerin über Mut, Werte – und warum wir einen Festakt für die Einbürgerung brauchen.

Auf dem Foto sehen wir die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal im Freien stehen. Der Hintergrund ist unscharf, im Vordergrund steht Frau Tekkal und blickt in die Kamera.

Düzen Tekkal …

… ist als Politologin, Autorin, TV-Journalistin und Filmemacherin tätig und steht für die Themen Migration, Integration und Menschenrechte. Sie wurde in die Fachkommission Fluchtursachen berufen und ist seit 2021 Sachverständige im Bundestag, wenn es um Anhörungen zur Menschenrechtslage in der Türkei geht. Mit ihren Schwestern gründete sie den Verein HÁWAR.help, der Jesid:innen im Irak und in Syrien unterstützt. 2019 rief sie die Bildungsinitiative GermanDream ins Leben, um durch Wertedialoge bereits in Schulen Extremismus und Islamismus vorzubeugen.

Düzen Tekkal auf Instagram und auf Twitter


change | Frau Tekkal, Ihr Dokumentarfilm „HÁWAR – Meine Reise in den Genozid“ hat 2015 großes Aufsehen erregt und den Völkermord an den Jesid:innen ins Bewusstsein der Menschen gerückt. Mit den Jahren wurde es aber immer stiller in der Medienberichterstattung, manche sprachen sogar von einem „vergessenen Völkermord“. Jetzt kehren die schrecklichen Bilder mit der Verurteilung der IS-Terroristin Jennifer W. zurück. Wie haben Sie dieses Urteil aufgenommen?

Düzen Tekkal | Das Urteil hat sehr viele Emotionen bei uns Jesid:innen ausgelöst. Dass vor einem deutschen Gericht eine Anklageschrift verlesen wurde, in der beschrieben wird, wie das jesidische Mädchen Rana umgebracht wurde, ist ein wichtiges Zeichen. Die IS-Überlebenden sagen uns immer wieder: Wir wollen nicht, dass die Welt vergisst, dass es diesen Völkermord gab. Das ist der Grund, warum meine Schwestern und ich die Menschenrechtsorganisation HÁWAR gegründet haben – auf der Asche eines Völkermords, der niemanden interessierte.
 

Düzen Tekkal

„Es klingt zwar grausam, was ich jetzt sage, aber ich war froh, dass die Welt damals, 2014, endlich erfuhr, was mit uns passierte.“

Düzen Tekkal


Warum hat er niemanden interessiert?

Die meisten Menschen wussten nicht, dass es unsere Religionsgemeinschaft überhaupt gibt. Es klingt zwar grausam, was ich jetzt sage, aber ich war froh, dass die Welt damals, 2014, endlich erfuhr, was mit uns passierte. Natürlich war ich schockiert und habe geweint. Aber unsere Geschichte, die nie erzählbar war, wurde es auf einmal. Die Verurteilung von Jennifer W. gibt dieser Geschichte noch einmal mehr Aufmerksamkeit. Und sie räumt auch mit dem Ammenmärchen auf, dass die IS-Frauen allesamt arme Opfer sind. Klar muss man hier differenzieren, aber die Rolle der Frauen im IS ist größer und perfider, als gemeinhin berichtet wird.

Sie haben die Menschenrechtsorganisation HÁWAR angesprochen, die Sie gemeinsam mit Ihren Schwestern gegründet haben. Kommen Sie aus einer politischen Familie?

Ja, meine Eltern haben mich da sehr geprägt. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als ich mit meinem Papa auf Demonstrationen von Amnesty International und der Gesellschaft für bedrohte Völker ging. Für mich war Politik also von Anfang an ein sehr persönliches Thema. Dass ich Journalistin geworden bin, hatte auch damit zu tun, dass ich darüber aufklären wollte, was mit meinem Volk passiert ist.

Die Entscheidung, als Kriegsreporterin in den Irak zu gehen, haben Sie als mutigste Entscheidung Ihres Lebens bezeichnet. Im ersten Interview der Values-Reihe der Bertelsmann Stiftung mit Helena Ernst schildern Sie das sehr eindrucksvoll:
 


Der Nordirak war damals die gefährlichste Region der Welt. Woher nahmen Sie den Mut, dort hinzureisen und zu berichten?

Diese vier Tage im August 2014 waren für mich lebensentscheidend, und die Aufgabe, über den Genozid zu berichten, war letztlich größer als meine Angst.

Eine durchaus berechtigte Angst.

Ja, man muss sich das einmal vor Augen führen, zwei Wochen zuvor wurde der Journalist James Foley vom IS enthauptet. Nun bin ich nicht lebensmüde, aber ich dachte, wenn du da jetzt nicht hingehst, wirst du es ein Leben lang bereuen. Im Grunde hatte ich keine andere Wahl. Die Hilferufe, die mich ereilt hatten, ließen keinen anderen Schluss zu.
 

Wer sind die Jesid:innen?

Etwa eine Million Menschen weltweit gehören dem Jesidentum an. Man nennt sie Jesidinnen und Jesiden, Ezidinnen und Eziden oder auf Kurmandschi (Nordkurdisch) Êzîdî. Viele Jesid:innen sehen sich selbst als ethnische Kurd:innen, einige als eigene Ethnie. Die Angehörigen des Jesidentums werden seit vielen Hundert Jahren verfolgt und vertrieben. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ verfolgt die Jesid:innen besonders grausam. Im Norden des Iraks verübte sie seit 2014 einen Völkermord, der bis heute andauert.

Die Hälfte der Jesid:innen lebt in der Diaspora, ein Großteil davon in Deutschland. Hier leben etwa 200.000 Jesid:innen. Das Jesidentum als Religion kennt einen allmächtigen Schöpfergott, der sieben Engel geschaffen hat. Einer von ihnen ist Melek Taus, der Engel Pfau. Der Pfau ist auch ein Symbol des Jesidentums. Die Religionsgemeinschaft beruft sich nicht auf eine zentrale heilige Schrift, sondern überliefert Traditionen und Glauben überwiegend mündlich.

Ein Pfau mit gefächertem Gefieder, auf dem man gut die Pfauenaugen sehen kann. Der Pfau ist auch ein Zeichen für das Jesidentum.


Ihr Film lief auf der ganzen Welt, auch im Deutschen Bundestag wurde er gezeigt. Er hat viele Menschen wachgerüttelt. Und Ihr Engagement geht noch weiter. Vor wenigen Wochen haben Sie das Bundesverdienstkreuz für Ihre Verdienste um das Gemeinwohl bekommen. Die Bildungsinitiative GermanDream dürfte nicht unerheblich dazu beigetragen haben. Sie entsenden sogenannte Wertebotschafter:innen als „Zeitzeug:innen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ in Schulen und Bildungseinrichtungen und tauschen sich über Werte aus. Worum geht es Ihnen dabei?

Es geht mir darum, die Werte unseres wunderschönen Grundgesetzes lebendig zu gestalten – Toleranz, Demokratie, Freiheit. Damit meine ich nicht, dass diese Werte „deutsch“ sind. Werte sind nur universell etwas wert. Und wir alle sind Vertreter:innen dieser Werte, mit all unseren bunten Biografien und Lebensentwürfen, die den abstrakten Wertebegriff mit Leben füllen.

Die Wertebotschafter:innen kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Das sind nicht nur prominente Politiker:innen, Schauspieler:innen und Sportler:innen, sondern auch Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen. Auch solche, die es nicht immer leicht hatten, mit gebrochenen Biografien.

Für mich sind das Alltagsheld:innen. Sie stiften eine Form von Identität, die das Gegenteil von identitär ist. Für mich war klar, dass man mit den Wertedialogen, die wir führen, bei den Jüngsten ansetzen muss, in den Schulen. So entstand dann GermanDream. Wir nutzen die positive Kraft der Begegnung, um die soziale Spaltung zu überwinden.
 

Menschen stehen im Kreis zusammen und geben High-Fives

Diese Arbeit ist unbezahlt – und unbezahlbar


Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Wir sprechen mit den Schüler:innen über Themen, die oft tabuisiert sind, bei denen man sich im Unterricht vielleicht nicht traut, sich einzubringen, weil man Angst hat, etwas Falsches zu sagen. Es geht um gesellschaftliche Herausforderungen, um Diskriminierung, um Rassismus, Sexismus, um Zukunftsaufgaben. Es geht aber auch darum, junge Menschen zu empowern. Sie darin zu bestärken, ihren Träumen zu folgen, egal woher sie kommen, woran sie glauben oder wen sie lieben.

Sie haben kürzlich vorgeschlagen, das Erlangen der deutschen Staatsangehörigkeit mit einem Festakt zu begleiten. Warum?

Da geht’s um Erinnerung – wie behalte ich diesen für mich so wichtigen Schritt im Gedächtnis? Es geht um Respekt und Wertschätzung. Es ist wichtig, den Menschen ins Gesicht zu schauen und ihnen zu sagen, dass sie herzlich willkommen sind.
 

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Eine symbolische Willkommensgeste?

So ein Festakt ginge weit über Symbolkraft hinaus. Er hätte eine wirkliche Bindungskraft. Als ich meine Einbürgerungsurkunde bekommen habe, hatte ich keine schöne Erfahrung. Die Beamtin hat zu mir gesagt: „Sie sind noch immer keine Deutsche, auch wenn Sie diese Urkunde haben.“ So etwas müssen wir vermeiden. Denn letztlich geht es auch bei der Einbürgerung um eine Wertevermittlung.

Was, wenn diese Werte nicht von allen geteilt werden?

Wir leben in einem Land, in dem es selbstverständlich ist – oder sein sollte –, dass ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau heiratet. Und wenn jemand damit ein Problem hat, dann müssen wir das hinterfragen – ohne das Gefühl zu haben, wir bedienen damit die Falschen. Da haben wir noch einiges vor uns. Und daher braucht es diesen Festakt im Sinne eines gemeinsamen Commitments.

Vielen Dank für das Gespräch.

In der Interviewreihe „Values“ der Bertelsmann Stiftung spricht Helena Ernst vom Kompetenzzentrum für Führung und Unternehmenskultur mit außergewöhnlichen Menschen über ihre Einstellung zum großen Thema Werte. Düzen Tekkal machte den Auftakt mit der Folge „Mut“. Alle Interviews findest du hier als Video und als Podcast.