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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Culture Coaches: Transkulturelle Integration von Geflüchteten

Foto der Sozialunternehmerin Zohre Esmaeli
Interview
Uwe Ernst

Zohre Esmaeli: Integration ist keine Einbahnstraße!

  • Uwe Ernst
  • 21. April 2023

Zohre Esmaeli kam im Alter von 13 mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland und machte später als Model international Karriere. Seit 2018 ist sie als Sozialunternehmerin in der Flüchtlingshilfe aktiv. Mit change sprach sie über ihr Projekt „Culture Coaches“ und darüber, warum es so wichtig ist, Geflüchtete gerade in der Ankunftszeit nicht allein zu lassen.

Was muss sich im deutschen Asylsystem ändern? Wie können wir als Gesellschaft Geflüchteten die Ankunft erleichtern? Und vor welchen Herausforderungen stehen Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren? Das erfährst du in diesem Interview.
 

Foto der Sozialunternehmerin Zohre Esmaeli

Zohre Esmaeli …

… ist ein afghanisches Model, das in Berlin lebt. Sie wurde 1985 in Kabul geboren und floh 1999 mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland. Seit 2017 ist sie das Gesicht der Standortkampagne „Deutschland – Land der Ideen“ der Bundesregierung. Als Sozialunternehmerin unterstützt Zohre Esmaeli außerdem den Verein „Afghanistan – Hilfe, die ankommt e. V.“ in Bad Kreuznach. Sie ist Mitglied im Deutsch-Französischen Integrationsrat und im Beirat „Entwicklung ländlicher Räume“ der Robert Bosch Stiftung. 2014 wurde sie zur Botschafterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ernannt. Im Jahr 2018 gründete Zohre Esmaeli ihr eigenes Projekt „Culture Coaches“, das Teil der Zohre Esmaeli Foundation ist und Geflüchtete bei ihrer Ankunft in Deutschland unterstützt.


change | Wie ist die Idee zu Ihrem Projekt „Culture Coaches“ entstanden?

Zohre Esmaeli | Als im Jahr 2015 so viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, hat das etwas in mir bewegt: Ich habe mich an meine eigenen Erfahrungen erinnert, als ich als Jugendliche mit meiner Familie aus Afghanistan nach Deutschland gekommen bin. Daraus entstand der Wunsch, selbst etwas zu tun und zu helfen. Ich habe mir überlegt, wie man das Ankommen für Geflüchtete erleichtern kann. Wir hatten damals in der ersten Zeit in Deutschland große Schwierigkeiten, vor allem mit der Bürokratie und der Integration. Ich wurde in der Schule gemobbt, musste meine Eltern oft zu Behörden begleiten, es gab niemanden, an den wir uns mit diesen Problemen hätten wenden können. 2015 habe ich mich dann gefragt, was mir damals geholfen hätte. So entstand die Idee, ein Projekt zu gründen, das Geflüchtete vor allem in der ersten Zeit in Deutschland unterstützt. Mir war klar, dass die direkte Arbeit mit Geflüchteten dabei ebenso wichtig ist, wie mit der Aufnahmegesellschaft.

„Ich glaube, das Besondere an unseren Integrationskursen ist, dass wir dabei an die Menschen denken: Was brauchen sie, um hier auch seelisch und psychisch anzukommen?“

– Zohre Esmaeli, Sozialunternehmerin


Wie wird das Projekt konkret umgesetzt, können Sie uns Beispiele nennen?

Bei der Umsetzung dreht sich vieles um transkulturelle Integration: Das heißt, wir bilden mehrsprachige, bikulturelle Menschen, sogenannte „Culture Coaches“, in verschiedenen gesellschaftsrelevanten Modulen aus. Sie unterstützen Geflüchtete dann in unterschiedlichen Bereichen, geben Deutschunterricht und Integrationskurse oder unterstützen Geflüchtete bei bürokratischen Fragen. Andererseits können „Culture Coaches“ auch in Behörden eingesetzt werden, um beispielsweise Mitarbeitende für die Situation von Geflüchteten zu sensibilisieren oder zu vermitteln. Ich glaube, das Besondere an unseren Kursen ist, dass wir dabei an die Menschen denken: Was brauchen sie, um hier auch seelisch und psychisch anzukommen?

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Wie sind diese Integrationskurse aufgebaut und was beinhalten sie?

In unseren Integrationskursen geht es zum Beispiel um unterschiedliche Familienmodelle in Deutschland und Europa, um Frauenrechte, politische Bildung, Demokratie, Arbeitsrecht und Arbeitskultur in Deutschland oder darum, wie man hier eine eigene Wohnung findet. So geben wir den Menschen das Handwerkszeug, das sie brauchen, um Fuß zu fassen und ihr Leben hier selbst zu gestalten. Daneben gibt es auch praktische Inhalte: Zum Beispiel vermitteln wir Geflüchtete für Praktika an Unternehmen.

Wer kann „Culture Coach“ werden?

Im Prinzip alle, die Lust haben, sich im sozialen Bereich zu engagieren. Die Ausbildung dauert zwei Jahre, danach kann man dann als Integrationsassistent:in in den Bereichen arbeiten, die wir in meinem Projekt „Culture Coaches“ anbieten. Es ist von Vorteil, wenn man mehrsprachig und bikulturell aufgewachsen ist und eine Migrationsgeschichte hat. So kann man sich besser in die Situation der Geflüchteten hineinversetzen.

„Am Anfang hat mich die Ellbogenmentalität im sozialen Bereich sehr überrascht, da gab es teilweise Vorurteile, zum Beispiel die Frage, warum ich mich als Model plötzlich sozial engagiere. Das hat mir nicht gefallen, ich finde, gerade in diesem Bereich sollte man sich gegenseitig unterstützen.“

– Zohre Esmaeli, Sozialunternehmerin


Welche Erfahrungen haben Sie als Sozialunternehmerin mit Migrationsgeschichte in Deutschland gemacht?

Es war schwierig, das Projekt zum Laufen zu bringen. Vergleichbare Projekte gibt es in Deutschland noch nicht, wir mussten das gesamte Programm selbst entwickeln. Es war auch nicht so einfach, Förderung zu bekommen, weil das Projekt so komplex ist und wir erst einmal drei Jahre an der Basis arbeiten mussten, um das Ausbildungsprogramm für die „Culture Coaches“ zu entwickeln. Am Anfang hat mich die Ellbogenmentalität im sozialen Bereich sehr überrascht, da gab es teilweise Vorurteile, zum Beispiel die Frage, warum ich mich als Model plötzlich sozial engagiere. Das hat mir nicht gefallen, ich finde, gerade in diesem Bereich sollte man sich gegenseitig unterstützen. Aber ich liebe Herausforderungen, und das hat mich noch mehr motiviert, mich durchzusetzen. Zum Glück habe ich ein tolles Team hinter mir, und so haben wir es gemeinsam geschafft zu zeigen, dass wir mit unserem Projekt nachhaltige Ziele und ein wichtiges Anliegen verfolgen.
 


Sie engagieren sich auch im Verein „Afghanistan – Hilfe, die ankommt“. Seit der Machtergreifung der Taliban im Jahr 2021 ist dringend benötigte humanitäre Hilfe für viele Menschen im Land sehr schwierig geworden. Läuft das Projekt noch?

Das Projekt läuft noch, und es gibt auch noch Hilfe vor Ort in Afghanistan. Durch die Machtübernahme der Taliban haben viele Menschen ihre Arbeitsmöglichkeiten verloren, viele Mädchen können nicht mehr zur Schule gehen, die Universitäten sind für Frauen geschlossen. Das heißt, sie sind gerade jetzt besonders auf Unterstützung angewiesen. Es wird allerdings nicht öffentlich über die Hilfen kommuniziert, damit wir unsere Partner:innen vor Ort nicht in Schwierigkeiten bringen.

Was muss sich Ihrer Meinung nach im deutschen Asylsystem ändern?

Wenn ich die Situation von heute mit der Situation von vor 20 Jahren vergleiche, als wir hierhergekommen sind, dann haben wir uns in diesem Bereich sehr gut entwickelt. Wenn ich etwas ändern könnte, dann würde ich bei den Behörden ansetzen: Hier sollte es mehr Wissen über die Hintergründe der einzelnen Asylbewerber:innen geben. Zum Beispiel aus welchen Verhältnissen die Menschen kommen oder warum sie sich zur Flucht entschlossen haben. Nur so können die Mitarbeitenden in den Behörden die Situation besser einschätzen und beurteilen, was diese Menschen brauchen. Für viele Geflüchtete ist das Asylverfahren mit großen Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Immer wieder kommt es vor, dass insbesondere junge Menschen, die einen negativen Asylbescheid erhalten, sich sogar das Leben nehmen, weil sie einfach keinen anderen Ausweg mehr sehen.

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Und was kann die deutsche Mehrheitsgesellschaft generell tun, um Asylsuchenden das Ankommen hier zu erleichtern?

Ich sage immer, dass Integration keine Einbahnstraße ist, sondern von beiden Seiten ausgehen muss. Ich kann nicht für die anderen Bundesländer sprechen, aber gerade hier in Berlin sind sehr viele Menschen in diesem Bereich aktiv und engagieren sich. Ich glaube, es ist wichtig, Verständnis füreinander zu finden und Vorurteile abzubauen. Wir werden auch hier in Deutschland jeden Tag internationaler und sind gerade jetzt wegen des Fachkräftemangels auf Zuwanderung aus anderen Ländern angewiesen. Das bedeutet, dass auch wir diese Menschen kennenlernen und auf sie zugehen sollten und nicht nur umgekehrt. Genauso wie es wichtig ist, dass die ankommenden Menschen sich mit den hiesigen Kulturen auseinandersetzen, sollten wir uns mit den Kulturen der Ankommenden befassen, damit wir eine Basis haben, uns zu verstehen, und nicht auf Vorurteile reinzufallen. Wenn man sich öffnet, öffnet sich auch die Welt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Vielfalt macht uns stark. Die Bertelsmann Stiftung ist der Überzeugung, dass Zuwanderung vielfältige Chancen eröffnen kann. Seit zehn Jahren untersucht sie mit repräsentativen Umfragen die Einschätzungen zu Migration sowie die Wahrnehmungen, wie willkommen Einwander:innen sowie Geflüchtete vor Ort bei der Bevölkerung und den Behörden sind.