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Was du über Lieferando-Fahrer:innen wissen solltest

Ein Lieferant bei der Kurierfahrt Brett Jordan – unsplash.com/license

Lieferando und Co.: Was du über Lieferdienstkurier:innen wissen solltest

  • Brett Jordan – unsplash.com/license
  • 21. Dezember 2020

Für Fans von Lieferdiensten macht es kaum einen Unterschied, ob die Essensbestellung 20 oder auch mal 27 Minuten braucht, bis sie vor unserer Tür steht. Für die Fahrer:innen von Lieferando und Co. können aber schon ein paar Minuten Verspätung Konsequenzen haben. Warum das so ist und was Algorithmen damit zu tun haben, erfährst du hier.

Bewegung an der frischen Luft und gleichzeitig Geld verdienen. Von außen sehen Jobs bei Lieferando und Co. relativ angenehm aus: Du radelst mit einem großen Rucksack durch die Stadt, holst Essen in Restaurants ab und lieferst es zu den Kund:innen nach Hause. Radfahren ist gesund und die Wege draußen erscheinen abwechslungsreicher als das Jonglieren von Geschirrstapeln zwischen den Tischen oder das Stehen am Tresen. Zudem kann man sich auch als Kurierfahrer:in ein recht gutes Trinkgeld dazuverdienen. Mit der Coronakrise ist die Auftragslage außerdem deutlich angestiegen und selbst im Lockdown kann noch gearbeitet werden.

Lieferando und Co.: Permanentes Tracking der Fahrer:innen per App

Die Realität sieht bei vielen Kurierfahrer:innen leider ganz anders aus: Beispielsweise vermittelt bei Lieferando eine App die Aufträge und verbindet Restaurants, Kurierfahrer:innen und Kundschaft miteinander, über diese App werden die Fahrer:innen permanent getrackt. Die Schaltzentrale der Lieferdienste weiß immer, wo sich die Fahrer:innen gerade befinden und wie viel Zeit sie für einen Auftrag brauchen. Kaum zu glauben, aber wahr: Für die Fahrer:innen können sich die Arbeitsbedingungen gravierend verschlechtern, wenn dieser Algorithmus sie als zu langsam einstuft.  


Schneller Blitz oder lahme Ente? Für jede:n Kurier:in gibt es eine Statistik

Aus den in der App gespeicherten Daten wird für jede:n Kurier:in eine Statistik erstellt. Basierend auf den Ergebnissen dieser Statistik werden alle aktiven Fahrer:innen in drei unterschiedliche Gruppen aufgeteilt: Die erste Gruppe besteht aus den Fahrer:innen, die in der kürzesten Zeit die meisten Aufträge erledigt haben, die zweite Gruppe aus denen, die etwas länger brauchen und in der letzten Gruppe sind die langsamsten Kurierfahrer:innen.

Besonders schnelle Kurier:innen bevorzugt die App bei der Schichtverteilung

Das Kontroverse dabei: Die Fahrer:innen aus der ersten Gruppe haben am Tag der Schichteinteilung als erste Zugriff auf den Schichtplan der kommenden Woche, können sich die Schichten also aussuchen. Die zweite Gruppe bekommt den Plan einige Stunden später zugeschickt, die Kurierfahrer:innen aus der letzten Gruppe können ihre Schichten erst am Abend auswählen, müssen also das nehmen, was übrig ist.

 

 

Fahrer:innen sind permanent im Stress, was im Straßenverkehr fatal sein kann

Logischerweise entsteht durch dieses System Druck für die Kurierfahrer:innen. Um die Balance zwischen Arbeit und Leben zumindest einigermaßen halten zu können, muss man an Schichten kommen, die sich gut mit dem vereinbaren lassen, was man abgesehen von Lieferfahrten tut. Durch den permanenten Druck, immer so schnell wie möglich sein zu müssen, kann außerdem schnell die Achtsamkeit nachlassen, was im Straßenverkehr fatal werden kann. Angestellt sind die Fahrer:innen bei Lieferando hauptsächlich über Freelance-Verträge, das bedeutet, dass sie sich selbst versichern und ihre privaten Handys für die Arbeit verwenden müssen. Auch Fahrräder und anfallende Reparaturen müssen teils selbst gestellt und bezahlt werden.

Viele Menschen sitzen in einem Großraumbüro

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In ganz Europa bilden sich Initiativen für bessere Arbeitsbedingungen bei den Lieferdiensten

In anderen Ländern Europas sieht die Situation für die Lieferservice-Fahrer:innen leider nicht besser aus: Bei allen großen Lieferservice-Ketten ist die Beschäftigung der Kurier:innen prekär und wird über den Algorithmus der jeweiligen Plattform gesteuert und bewertet. Mittlerweile wollen viele Fahrer:innen die Situation nicht weiter hinnehmen – in ganz Europa bilden sich Initiativen und Gewerkschaften, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen.

Für faire Vergütung und Arbeitsverträge

So wurde beispielsweise nach einer Lohnkürzung von finnischen Foodora-Fahrer:innen die Initiative „Justice4Couriers“ gegründet, die sich für faire Vergütung und Arbeitsverträge sowie für transparentere Bewertungsalgorithmen einsetzt. Obwohl Foodora den Forderungen der Kurier:innen bisher kaum nachgekommen ist, wurde die finnische Regierung durch „Justice4Couriers“ auf die Missstände bei den Lieferplattformen aufmerksam und unterzieht sie jetzt einer rechtlichen Prüfung.

Plattformarbeiter:innen in Deutschland

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019 zum Thema „Plattformarbeit in Deutschland – Freie und flexible Arbeit ohne soziale Sicherung“, für die auch Lieferando-Fahrer:innen befragt wurden, sind 59 Prozent der Plattformarbeiter:innen mit ihrer Arbeit zufrieden oder eher zufrieden, 31 Prozent sind teils zufrieden und 8 Prozent der Befragten sind überhaupt nicht zufrieden. Als nachteilig empfinden die Plattformarbeiter:innen hauptsächlich die fehlende soziale Absicherung, häufig anfallenden unbezahlten Zusatzaufwand und den starken Konkurrenzdruck. Auf die Frage nach der Bezahlung gaben 54 Prozent der für die Studie befragten Lieferando-Fahrer:innen an, 1 bis 400 Euro im Monat zu verdienen, 24 Prozent verdienen 400 bis 1.500 Euro monatlich und 9 Prozent verdienen über 1.500 Euro. 8 Prozent der Befragten gaben an, bisher überhaupt kein Gehalt von Lieferando bekommen zu haben. 

 

 

 

Fahrradkurier

 

Das deutsche Äquivalent zu „Justice4Couriers“ heißt „Liefern am Limit“. Seit 2018 setzt „Liefern am Limit“ sich zusammen mit der Gastro-Gewerkschaft NGG dafür ein, dass die Fahrer:innen von Lieferando einen Betriebsrat gründen dürfen, dagegen wehrt sich das Unternehmen nämlich seit Jahren. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ argumentierte ein Sprecher von Lieferando, dass ein Betriebsrat nicht mit der jungen, modernen und offenen Unternehmenskultur Lieferandos vereinbar sei. Dass dieses Image, das Lieferando nach draußen tragen will, kaum mit dem tatsächlichen Arbeitsalltag der Kurier:innen zusammenpasst, bleibt unkommentiert. 

Neue Entwicklungen

Dieser Artikel spiegelt den Stand im Dezember 2020 wider. Inzwischen hat sich viel getan. Aktuelle Entwicklungen kannst Du zum Beispiel in diesem und diesem Artikel der Tagesschau nachlesen.


Petition für Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel

Aus der Corona-Krise ist Lieferando als einer der großen Gewinner hervorgegangen, doch auch hier sieht das Unternehmen keinen Grund, die Fahrer:innen besser zu vergüten, obwohl sie momentan ein deutlich größeres gesundheitliches Risiko eingehen als zu Zeiten ohne Pandemie. Finanzielle Zuschüsse, um sich mit Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel auszustatten, gab es erst, als „Liefern am Limit“ eine Petition für bessere Ausrüstung startete, die etwa 10.000 Menschen unterschrieben.

Nach Demonstrationen gegen die Arbeitsbedingungen bei Deliveroo, Glovo und Uber Eats wurden in Barcelona viele Kurierfahrer:innen, die Proteste organisiert hatten, von den Unternehmen entlassen. Daraufhin gründeten sie eine eigene Lieferservice-Kooperative, die genossenschaftliche Liefer-App „Mensakas“. Das Verhältnis zwischen Projekten wie „Mensakas“ und den Lieferservice-Giganten mag wie ein Kampf zwischen David und Goliath erscheinen und zeigt doch, dass es sich lohnt, auch technischen Fortschritt zu hinterfragen und aktiv zu gestalten.

Ähnlich wie in Europa gehen Unternehmen übrigens auch in den USA mit Plattformarbeiter:innen um: Auf eine Gewerkschaftsinitiative, durch die Gig-Worker ähnlichen sozialen Schutz wie normale Angestellte bekommen sollten, reagierten die Fahrdienste Uber und Lyft mit einer 200 Millionen Dollar schweren Gegeninitiative. Um Betriebskosten zu sparen wollen sie ihre Fahrer:innen weiterhin wie Selbständige behandeln.

Algorithmen machen unser Leben nicht immer einfacher. Mit dem Projekt „Ethik der Algorithmen“ setzt sich die Bertelsmann Stiftung dafür ein, dass beim Einsatz algorithmischer Systeme nicht allein das technisch Mögliche zählt, sondern vor allem das gesellschaftlich Sinnvolle im Mittelpunkt steht. Zu dem Ergebnis, dass es bei der Verwendung algorithmischer Systeme häufig an Transparenz, Aufsicht und Kompetenz fehlt, ist auch der „Automating Society Report 2020“ gekommen, den ein journalistisches Recherche-Netzwerk im Auftrag der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch erstellt hat.