Estland: Sieben Dinge, die du noch nicht wusstest
-
Jonne Huotari - unsplash.com/license
- 06. Mai 2021
Den kleinen baltischen Staat Estland, zwischen Lettland und Russland gelegen, gibt es erst seit 1918. Warum das Leben für die Est:innen in den letzten 100 Jahren nicht leicht war, wie sie trotzdem zu Sieger:innen in Sachen Digitalisierung wurden und warum Estnisch den Ruf hat, eine „pessimistische Sprache“ zu sein – change erklärt's.
Verstehen Est:innen Finnisch? Warum lebten einige Menschen des Landes jahrelang versteckt im Wald? Und wie ähnlich sind sich die baltischen Staaten untereinander? Hier kommen sieben Fakten über Estland, die du vielleicht noch nicht wusstest.
1. Estland: Lange ein besetztes Land
In den letzten 100 Jahren haben die Est:innen viel mitgemacht. Zwischen 1940 und 1991 war das kleine Land durchgehend besetzt. Zuerst wurde es ein Jahr lang von der Sowjetunion okkupiert, dann kamen 1941 die Nazis und wurden 1944 von den Sowjets vertrieben, die Estland diesmal bis zum Zerfall der Sowjetunion und der Öffnung des Eisernen Vorhangs im Jahr 1991 besetzt hielten. Für viele Est:innen waren diese Jahrzehnte traumatisch: Von beiden Regimen wurden sie terrorisiert, bedroht, bespitzelt und lebten in der ständigen Angst, sogar wegen kleinster Vergehen in eines der überfüllten Gefängnisse geworfen oder in Arbeitslager abgeschoben zu werden.
2. Estlands Waldbrüder: Entbehrungsreiches Leben in Gefahr
Als die Sowjets 1944 nach Estland zurückkehrten, flüchteten sich viele Est:innen, die zuvor mit den Nazis kollaboriert hatten, in die riesigen Wälder des Landes und versteckten sich dort. Auch antikommunistische Partisan:innen, die Widerstand gegen die Besetzung leisten wollten, formierten sich im Wald, hatten aber keine Chance gegen die übermächtige Sowjetunion. In Estland wurden diese Menschen „Waldbrüder“ genannt. Sie lebten teils Jahrzehnte unter größten Entbehrungen fern von ihren Familien in den Wäldern, stets mit der Angst, von sowjetischen Agent:innen aufgestöbert zu werden.
3. Estland, Lettland, Litauen: Drei kleine Nachbarstaaten mit großen Unterschieden
Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen werden oft als eine durch ähnliche Schicksale fest verbundene Einheit wahrgenommen. Aber es gibt zwischen den drei Ländern große Unterschiede: So ist Litauen schon seit dem Mittelalter ein eigenständiger Staat, während Estland und Lettland erst 1918 die Unabhängigkeit erlangten. Auch konfessionell gibt es Differenzen: Lettland und Estland sind größtenteils protestantisch, während in Litauen die Mehrheit der Bevölkerung katholisch ist. Außerdem unterscheiden sich auch die Sprachen der Länder: Zwischen dem Lettischen und Litauischen gibt es zwar viele Gemeinsamkeiten, Estnisch gehört allerdings zu einer vollkommen anderen Sprachfamilie, nämlich zur finno-ugrischen.
4. Estland, Finnland und Ungarn: Sprache verbindet
„Vana karu tantsima ei õpi“ ist estnisch und bedeutet auf Deutsch „Ein alter Bär lernt das Tanzen nicht mehr“. Im jungen Land Estland lernte vor allem Tallinns Bevölkerung zur Sowjetzeit Finnisch – aus dem Fernsehen. Das war relativ einfach, denn die Sprachen haben viel gemeinsam. Estnisch gehört neben Finnisch und Ungarisch zur finno-ugrischen Sprachgruppe. Wie konnten sich diese Sprachen so weit über den europäischen Kontinent verbreiten? Ganz einfach: durch zahlreiche Völkerwanderungen. Forscher:innen gehen davon aus, dass der eigentliche Ursprung der finno-ugrischen Sprachen in Sibirien liegt. Gut zu wissen: Im Estnischen gibt es weder Artikel noch Geschlechtsbezeichnungen und auch keine Zukunftsform, weshalb Estnisch den Ruf hat, eine „pessimistische Sprache“ zu sein.
5. Estland als Vorreiter: Internet als Grundrecht
Estland ist eine Vorreiternation in Sachen Digitalisierung und hat das Recht auf einen funktionierenden Internetzugang für alle estnischen Bürger:innen gesetzlich verankert. So gut wie alle bürokratischen Prozesse werden in dem baltischen Staat digital abgewickelt. Als erstes und immer noch einziges Land der Welt hat Estland im Jahr 2005 außerdem ein E-Voting-System eingeführt, mit dem sich online wählen lässt. Auch in der Corona-Pandemie ist Estland dieser hohe Digitalisierungsstandard zugutegekommen: Alle Schulen des Landes sind bereits seit 1998 ans Internet angeschlossen, haben ein breites E-Learning-Programm, die Schüler:innen sind mit Tablets oder PCs ausgestattet und auch Schulbücher gibt es seit Langem in digitalisierter Form. Die Umstellung aufs Homeschooling lief in Estland deshalb deutlich besser als in vielen anderen europäischen Staaten.
6. Estlands Gender-Pay-Gap: Klaffende Lohnlücke zwischen Frauen und Männern
So fortschrittlich Estland bei der Digitalisierung ist, so rückschrittlich ist der baltische Staat bei der Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen: Frauen in Estland verdienen durchschnittlich 21,7 Prozent weniger als Männer. Das bedeutet: Für jeden Euro, den ein estnischer Mann verdient, bekommt eine Frau nur 78 Cent. Damit landet Estland in der Europäischen Union auf dem letzten Platz, was Lohngerechtigkeit betrifft.
7. Estlands ethnische Minderheit: Das Königreich der Seto
Im Grenzgebiet zwischen Estland und Russland, nahe des Peipussees, lag das Königreich Setumaa, das der kleinen Volksgruppe der Seto (auch: Setukesen oder Setu) gehörte. Heute sind die Seto größtenteils in der estnischen Gesellschaft assimiliert, nur noch etwa 4.000 leben auf dem Gebiet des ehemaligen Königreichs, die meisten sind in größere Städte wie Tallinn oder Tartu abgewandert. Trotzdem erhalten die Seto viele ihrer alten Bräuche und Traditionen weiterhin aufrecht, wie zum Beispiel ihre eigene Gesangskunst namens Leelo, die zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe gehört.
Politik nachhaltig gestalten: Die Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung liefern umfangreiche Vergleichsdaten darüber, wie gut das gelingt. Vor allem im Bereich Digitalisierung und Bildung ist Estland in der SGI-Analyse eine der führenden Nationen.