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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Wie Estland zum ersten Smart Country der Welt wurde

Eine Kreidetafel, auf der Free Wifi geschrieben steht. Adobe Stock / arthurorskis

Internet für alle – und gratis! Das ist die erste digitale Nation der Welt

  • Adobe Stock / arthurorskis
  • Stanford, Kalifornien
  • Januar 2018

Estlands Ex-Präsident Ilves brachte seine Republik ins Netz, als noch kaum jemand daran dachte. Mit change sprach er über Programmierunterricht in Schulen, Cyber-Populismus und warum wir die Zukunft nicht dem Silicon Valley überlassen sollten.

Als ehemalige sowjetische Teilrepublik stand Estland Ende des 20. Jahrhunderts vor einem wirtschaftlichen Neuanfang. Dass dem Land der Aufschwung gelang, verdankt es einem Mann: Wir haben den ehemaligen Staatspräsidenten Toomas Ilves gefragt, wie die digitale Zukunft aussieht.

Toomas Hendrik Ilves

Toomas Hendrik Ilves

… war von 2006 bis 2016 Staatspräsident der Republik Estland. Seit Anfang 2017 ist er Visiting Fellow am Center for International Security and Cooperation der Universität Stanford.


Weshalb hatten Sie es mit der Digitalisierung Estlands so eilig?

Ilves: 1938 hatten Estland und Finnland dasselbe Bruttoinlandprodukt pro Kopf. Als Estland 1991 unabhängig wurde, war das Finnische dreizehnmal so groß. Aber wie soll man nach 50 Jahren kommunistischer Zwangsherrschaft aufholen?

Toomas Ilves

„Die Straßen in Estland waren fürchterlich. Das aufzubessern, würde Jahrzehnte dauern. Aber eine digitale Infrastruktur konnten wir sofort bauen.“

Toomas Hendrik Ilves, ehemaliger Staatspräsident der Republik Estland

Mir wurde klar, dass wir online dieselben Startbedingungen hatten, egal ob in Estland, den USA oder Deutschland.

Die Straßen in Estland waren fürchterlich, denn unter den Sowjets fuhr niemand Auto. Das auszubessern, würde Jahrzehnte dauern. Aber eine digitale Infrastruktur konnten wir sofort bauen – und zwar genauso gut wie der Rest der Welt. Vielleicht sogar besser.

Estland – das erste Smart Country?

 

Zwischen 1940 und 1991 war Estland Teil der Sowjetunion. Wirtschaft und Gesellschaft litten unter der Abhängigkeit. Um das Land wiederaufzubauen, entschied sich die estische Regierung für eine digitale Revolution.
 

Das Ergebnis: Heute ist der Internetzugang für die Esten ein Grundrecht. Landesweite Computer-Terminals machen das Surfen für jeden möglich. Über eine Online-Identifikation lassen sich so auch alle Behördenkontakte erledigen. Diese Maßnahmen verhalfen Estland zu mehr Infrastruktur im ländlichen Raum, mehr Meinungsfreiheit und weniger Korruption.

 

Ein Ausblick auf das Stadtbild von Talinn, der Hauptstadt Estlands.


Was braucht es, um eine Nation digital zu machen?

Ilves: Kinder können besser programmieren als Erwachsene, also sollten wir sie an einen Computer setzen. Der Gedanke war, dass man am Anfang nur ein paar Kommunen dafür gewinnen müsste, dann würden sich andere aus purem Neid anschließen.

Ilves

„Wenn die Europäische Kommission nun kostenloses WiFi vorschlägt, kann ich nur sagen: Wir hatten das schon vor 15 Jahren.“

Toomas Hendrik Ilves, ehemaliger Staatspräsident der Republik Estland

Bis Anfang 1998 waren so alle Schulen in Estland online und hatten ihr Computerlabor. Dann machten wir diese für alle zugänglich. Wenn ich jetzt lese, dass die Europäische Kommission vorschlägt, Kommunen sollten kostenloses WiFi anbieten, kann ich nur sagen: Wir hatten das in Estland schon vor 15 Jahren.

Der Schlüssel ist aber die digitale Identität. Hier kam uns die Geschichte zu Hilfe: Bis 1991 konnten Esten nicht ins Ausland. Danach wollten alle einen Pass. Als nach zehn Jahren die Verlängerung anstand, konnten wir einen Chip einbauen. Jetzt investierten Behörden in digitale Dienste – etwa um die Steuererklärung online abzugeben oder elektronische Rezepte auszustellen.

Klappt das auch mit der EU?

Ilves: Ich bin ein großer Befürworter Europas. Wir könnten die EU-Malaise überwinden, wenn wir nicht vom Gedanken Europas faseln, sondern EU-weite Dienstleistungen anbieten. Warum sollten Deutsche nicht ihr Rezept in Griechenland einlösen können?

So etwas war vor 15 Jahren technisch nicht machbar, aber heute geht das sehr wohl. Das Problem ist nicht High-Tech, sondern massiver Widerstand von Regierungen.

Toomas Ilves im Video-Interview: Verschläft die EU die Digitalisierung?


Müssen wir Populismus und Cyber-Kriminalität im digitalen Zeitalter einfach hinnehmen?

Ilves: Die Funktionsweise einer Demokratie sollte neu definiert werden – und auch wie wir sie verteidigen. Denn die Demokratie steht heute vor Gefahren, die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Hacker stehlen im Regierungsauftrag E-Mails und Bots verbreiten Fake News rasend schnell im Netz.

Durch Social Media können detaillierte Personenprofile angelegt werden – wovor ich Angst habe und was meine Vorlieben sind. Das hat man sich im US-Wahlkampf zunutze gemacht.

Der Westen denkt bei Demokratie an Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Rechtsstaat. Wenn man das System freier Wahlen bewahren will, muss man im Zeitalter von Fake News und Bots vielleicht das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden. Das wird uns die kommenden Jahre ausgiebigen Diskussionsstoff liefern.

Können wir digitalen Fortschritt nicht einfach dem Silicon Valley überlassen?

Ilves: Im Silicon Valley wird in der Tat ein Teil der Zukunft erfunden. Fast alle Entwicklungen der digitalen Welt haben hier ihren Anfang genommen. Gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, dass das so bleiben sollte. Die für Regierungen und Nationen wichtigen Themen stammen nämlich aus der analogen Welt: politische Entscheidungen, Gesetze, Regulierungen.

Die USA haben erstaunliche Dinge hervorgebracht, aber auf digitaler Ebene sind sie nicht besonders weit. Das Öko-System um den Einsatz dieser Technologien ist überraschend rückständig und unsicher. Daraus könnte großer Schaden entstehen.

Die Bertelsmann Stiftung würdigte Toomas Ilves als Vordenker der Digitalisierung und verlieh ihm den Reinhard Mohn Preis 2017 zum Thema Smart Country. Das gesamte Interview lesen Sie in der aktuellen Printausgabe des change Magazins 02/2017.